Ein tragischer Tod auf dem Podium: Am 20. April 2001 stürzte der Dirigent Giuseppe Sinopoli während einer Vorstellung von Verdis „Aida“ an der Deutschen Oper Berlin vom Podium: Herzstillstand mit Todesfolge. Ein Leben ging zu Ende, das von einer unendlichen Wissbegier, aber auch von Sensiblität, Kreativität und tiefer Humanität geprägt war.
Komponist, Dirigent und Archäologe war Sinopoli, und letzteres im eigentlichen Sinne, hatte er doch neben seiner bedeutenden Karriere, die ihn aus seinem Heimatland Italien über London und Berlin als Chefdirigent an die Sächsische Staatskapelle Dresden führte, auch noch ein ordentliches Archäologiestudium an der Univerisität in Rom absolviert. Ganz zu schweigen von dem gleichzeitigen Studium der Medizin und der Komposition in Padua und Venedig, mit dem alles begonnen hatte…
Von den alten Kulturen erhoffte er sich Antworten auf die Urfragen der Menschheit: Wo komme ich her? Wo gehe ich hin? Was ist der Sinn des Lebens? Was geschieht jenseits der Grenze von Leben und Tod? Sinopoli konnte die vorsokratischen Philosophen des alten Griechenland im Original lesen, er konnte Hieroglyphen und Keilschriften übersetzen. Er schrieb blitzgescheite und komplexe Essays wie „Parsifal in Venedig“ und Betrachtungen zu Wagner, Mahler und Richard Strauss. Als Dirigent war er ebenso ebenso genial wie umstritten. Umstritten deshalb, weil er weniger vom „Handwerk“ kam als vielmehr von der Komposition und von der Kultur. Doch was dabei herauskam, war verblüffend und hellsichtig.
In den 1970er Jahren war er eine der größten Hoffnungen der kompositorischen Avangarde Italiens gewesen. Doch als er begriff, dass die tiefsten Probleme des Menschseins – Liebe und Verlust, Trauer und Trost – bereits von den Komponisten des 19. und 20. Jahrhunderts mustergültig formuliert waren und diese Musik auch sein Herz mehr berührte als die mathematischen Konstruktionen der Neuen Musik, gab er das Komponieren auf.
Er verstand sich fortan als Botschafter, der mit klarer Analyse und emotionaler Wärme Partituren zum Leben erweckte und die Zuhörer in den Bann zog. Zugleich war er ein Suchender, der sich bei dem Renaissancephilosophen Giordano Bruno oder in den Schriften Richard Wagners mehr zu Hause fühlte als in seiner eigenen Gegenwart.
Und er reflektierte mit unbestechlicher Klarheit die geistigen und politischen Tendenzen der Zeit. Früher baute man Tempel, um den Geheimnissen des Lebens nahezukommen, heute baut man nur noch Autobahnen – so ein ernüchterndes Fazit. Und doch war er auch ein Mensch, der das Leben mit voller Intensität lebte: während seiner archäologischen Grabungen, während seiner Proben und Konzerte, aber auch im Kreis seiner Familie und Freunde. Wer immer ihn kannte, war tief berührt von seiner Lebensfreude, aber auch von seinem kritischen Verstand und von der Tiefe seines Nachdenkens. Und er war ein exzellenter Koch, der es liebte, seine Gäste mit den frischen Köstlichkeiten des Meeres um Lipari, wo er ein bezauberndes Landhaus besaß, zu beglücken.
Die erste und einzige Biografie dieses Universalgelehrten und Künstlers hat Ulrike Kienzle nach jahrelangen Recherchen und zahlreichen Gesprächen mit Zeitgenossen, Freunden und Weggefährten 2011 im Verlag Königshausen und Neumann vorgelegt – zehn Jahre nach Sinopolis plötzlichem Tod. Darin zeichnet sie höchst anschaulich das Bild eines Menschen, der uns allen wichtige Impulse gibt – auch heute noch!. Zu Sinopolis 20. Todestag 2021 wurde dieses wichtige Buch ins Italienische übersetzt und mit enthusiastischen Rezensionen gefeiert. Solche Biografien verlieren nicht an Aktualität, im Gegenteil. Was hätte Sinopoli uns heute noch zu sagen! Seine Einspielungen können wir hören, doch die wichtige Stimme ist verklungen. Erwecken wir ihn wieder zum Leben – durch die Lektüre dieses wichtigen Buches!
Beitrag von U. Kienzle