Beschreibung
Ausgehend von der Literatur der Aufklärung wie der Romantik bis hin zur Gegenwart untersucht Harry Merkle in “Die künstlichen Blinden” die von sozialen Vorurteilen, individuellen Projektionen und literarischen Traditionen gespeisten Konstitutionselemente sehender Autoren für blinde Figuren – für wichtige wie der erblindende Faust Goethes oder marginale wie in Dürrenmatts “Besuch der alten Dame”. Die Aufklärung inszenierte sich gerne in der Heilung eines Blinden. Ein neuer Mensch wurde der lähmenden Nacht entrissen und nun erst der Bildung zugänglich. Das Buch beschreibt die erstaunliche Modifikation der erfolgreichen Blindenheilung in der zeitgenössischen Literatur als traumatische Verlusterfahrung. Insgesamt stehen blinde Figuren bis heute allerdings im Spannungsverhältnis zwischen Faszination und Bedrohung, das schon die mythische Figur des blinden Sehers charakterisierte. Geblendet war er symbolisch zwar dem Leben entrissen und sah als Bote göttlichen Willens doch mehr als jeder Sehende. In der Palette der Gestaltungsmöglichkeiten verschwindet die prophetische Gabe blinder Figuren. Doch in blinden Frauenfiguren, in Blinden als Boten des Todes oder als Bewohner einer anderen Welt zeigt sich eine überraschende literaturhistorische Kontinuität. Der Autor Harry Merkle studierte Germanistik und Soziologie, arbeitete in der Blindenstudienanstalt in Marburg und lebt heute in Berlin.