Richard Wagners Ring des Nibelungen fasziniert. Der Text und mit ihm die Einzelheiten der Handlung dieser vier Musikdramen werfen allerdings häufig Rätsel auf. Was genau passiert an den vier Abenden auf der Bühne? Und warum? Wolfgang Kau hat einen Leitfaden verfasst, der bei K&N erschienen ist. In vier Bänden führt er Zeile für Zeile durch den Originaltext der Orchesterpartitur und erläutert das Bühnengeschehen.
Bernd Klempnow urteilt in der Sächsischen Zeitung:
„Dieser Leitfaden ist so anregend wie unterhaltsam. Er macht das Drama ungemein lebendig, ist für Wagner-Anfänger überlebensnotwendig und auch für Kenner ein Gewinn.“
Wolfgang Kau im Gespräch über Wagner, die Faszination, und die Entstehung seines Leitfaden-Projekts.
Herr Kau, wie genau entstand die Idee, einen Leitfaden durch den Text zu Wagners Ring zu schreiben?
Wahrscheinlich ging es mir in dieser Hinsicht ähnlich wie Wagner. Der Stoff, also das „Weltendrama“, das dem Ring zugrunde liegt, übt einen Sog aus, dem schwer zu widerstehen ist.
Meine erste Berührung mit dem Ring liegt gut 40 Jahre zurück. Vor etwa 20 Jahren habe ich im Freundeskreis und in einer Dresdner Buchhandlung Einführungsvorträge zum Ring gehalten. Das Manuskript dieser Vorträge lag anschließend viele Jahre unberührt im Schrank. Vor gut vier Jahren begann ich dann im Verdi-Land Italien ohne äußeren Anlass am Rande eines Swimmingpools und mit Blick auf die toskanische Hügellandschaft mit dem Schreiben. Meine Idee war, mein Vortragsmanuskript zu einer Nacherzählung auszuweiten und diese mit besonders lohnenden Teilen des Originaltextes anzureichern. Dieses Vorhaben ist mir schrittweise völlig aus den Händen geglitten. Unter der ständigen Qual der Wahl, was schadlos weggelassen werden kann und was unbedingt in den Text gehört, kann, fiel mir auf, wie präzise, wie tiefsinnig und zudem wie feinmaschig ineinander verwoben Wagner den Ring-Text verfasst hat. Textstellen, die ich zunächst für überflüssig oder belanglos hielt, gewannen auf den zweiten oder den dritten Blick tiefe Bedeutung.
Ein ganz gutes Beispiel dafür ist das oft belächelte Plantschen der Rheintöchter in der ersten Szene des Rheingold. In dieser Badeszene steckt bereits alles, was den Ringstoff in seiner Gesamtheit ausmacht. Die gar nicht so jungen Damen wirken wie arglose Naturwesen. Doch ihr bösartig verabredetes Spiel mit den Instinkten des allein ob seiner äußeren Erscheinung verachteten Zwergs setzt ein Drama in Gang, das von den gleichen Motiven und Mechanismen beherrscht wird, die zeitlos unser Tun und das Weltgeschehen beherrschen. Jeder von uns trägt ein wenig Rheintochter und ein wenig Alberich in sich. Und wer von uns wäre nicht auch ein bisschen Wotan, Fricka oder Siegfried? Ganz ohne Hagen kommt die Welt ohnedies nicht aus, zumal der erschütternde Traum Hagens im zweiten Aufzug der Götterdämmerung offenbart, dass der größte Verbrecher im Ring seinerseits ein Getriebener und seiner unehelichen Herkunft wegen Verachteter ist.
Um auf Ihre Frage zurückzukommen: die vier Bücher entstanden, weil der Text nicht weniger fasziniert als die Musik und weil ich ebenso wie Wagner nicht wüsste, welche Textteile man schadlos weglassen könnte, geschweige denn sollte. Während der Kompositionsarbeiten hat Wagner den selbstverfassten Text übrigens nur an wenigen Stellen verändert. Das legt nahe, dass Wagner die Ring-Musik zumindest in Umrissen im Kopf hatte, als er den Text verfasste. Auch das spricht gegen die verbreitete These, man könne die Musik vollendet auch ohne Textkenntnis genießen. Richtig ist die Umkehrung dieser Aussage: die psychologische Tiefe der Musik erschließt sich erst mit Textkenntnis. Erst wer den Text gelesen und verstanden hat, findet das Plantschen der Rheintöchter nicht albern, die Handlung der Walküre nicht verworren, die zeitraubende Begegnung von Siegfried und Brünnhilde im dritten Aufzug des Siegfried nicht langatmig und die Handlung der Götterdämmung nicht inkonsistent.
Viele finden die Musik dieser Oper faszinierend, den Text aber unzugänglich. Wann haben Sie zum ersten Mal gedacht, der Text wird zu Unrecht häufig geringer geschätzt?
Sehen Sie mir bitte nach, wenn ich den ersten Teil Ihrer Frage in einem Wagner sehr wichtigen Detail korrigiere. Der Ring ist keine Oper, sondern besteht aus vier „Musikdramen“. Diese vielleicht penibel wirkendende Korrektur hat viel mit dem Gegenstand Ihrer Frage zu tun. Die Texte, die Wagners Musikdramen zugrunde liegen, sind im Unterschied zu vielen gängigen Operntexte weit mehr als das Rückgrat für gefällige Musik. Wagners Texte und insbesondere der Ringtext bieten auf Schritt und Tritt Gegenstand zum Nachdenken, zum Diskutieren und zum Streitgespräch. Insoweit empfand sich Wagner durchaus zu Recht als ein Nachfolger von Shakespeare, wenngleich man nicht alle Selbsteinschätzungen Wagners teilen oder für bare Münze nehmen muss.
Trotzdem ist Ihre Eingangsthese, der Ringtext sei „unzugänglich“, berechtigt. Selbst mit viel Geduld kommt man vielen Rätseln im Ringtext nur mit Hilfe von Sekundärliteratur auf die Spur. Die hohen Qualitäten des Wagnertextes zeigen sich erst, wenn diese Rätsel zumindest halbwegs gelöst sind. Das ist auch mir so richtig erst beim Schreiben aufgegangen. Zurückblickend war es eigentlich ganz amüsant. Meine ursprüngliche Idee, nicht den gesamten Text zu kommentieren, sondern nur besonders lesenswerte Textpassagen herauszugreifen, versetzte mich in die Verlegenheit zu entscheiden, was weggelassen werden kann und was nicht. Wohl mehr als ein Jahr verging, bis sich begriff, dass mein Konzept für den Ring nicht taugt und die ständige Qual der Wahl sinnvoll nur mit einer Kehrtwende um 180° beendet werden kann. So kam ich zum Entschluss, gar nichts mehr wegzulassen, sondern im Gegenteil der sinnvollen Bedeutung auch und gerade solcher Textstellen nachzugehen, die auf den ersten, mitunter auch auf zweiten und noch den dritten Blick überflüssig, rätselhaft oder unverständlich erscheinen wie beispielsweise der berühmte „Augensatz“ Wotans in der Begegnung mit Siegfried im dritten Aufzug des Siegfried. Erst wenn man diesen Prozess auf sich nimmt, den man wahrscheinlich nie ganz abschließen kann, wird der Ring richtig rund. Die besten Zeugen dafür sind Wagner und die Ring-Musik. Schließlich ist es Wagner gelungen, jede Zeile des Ring-Textes angemessen zu vertonen. Und selbst erklärte Textverächter reklamieren ja nicht, dass Wagner vertonte Textpassagen mitsamt der Vertonung hätte weglassen sollen.
Haben Sie einen „Lieblings-Abend“ im Ring-Zyklus, und falls ja, welchen?
Diese Frage ist nicht ganz leicht zu beantworten. Jeder der vier Abende hat seine eigenen Meriten. Das Rheingold mit einer „Ursünde“ am Anfang und einem biblischen Brudermord kurz vor Schluss – übrigens stirbt (fraglos nicht zufällig!) bei Wagner wie in der Bibel der bessere Charakter – ist ein pausenloser Wirbelsturm. Die Psychologie der Walküre nimmt vieles von Freud vorweg und steht in mancher Hinsicht auf gleicher Höhe mit Dostojewski. Der oft weniger beliebte Siegfried ist Wagner in einer Hinsicht von allen Teilen der Tetralogie am besten gelungen: über mehr als vier Stunden Text und Musik agieren auf der Bühne im Dialog durchweg höchstens zwei Darsteller. Das Auge des Betrachters findet im Siegfried daher wenig unterhaltsame Ablenkung vom Text. Trotz dieser Vorzüge der ersten drei Teile der Tetralogie steht für mich in Summe die Götterdämmerung an erster Stelle. Das hat, wie ich gerne zugebe, vor allem mit der Musik zu tun. Die Götterdämmerung hat in meinen Ohren einen ganz eigenen und besonders faszinierenden Orchesterklang. Das gilt auch im Vergleich mit dem dritten Aufzug des Siegfried, den Wagner ja quasi in einem Zug mit der Götterdämmerung komponiert hat.
Was wäre Ihr Tipp für Wagner-Neulinge, die sich ins Universum des Rings vortasten wollen?
Natürlich würde ich jedem, so selbstlos bin ich nicht, die Lektüre meiner vier „Ringbücher“, also der vier Leitfäden empfehlen. Aber damit anfangen sollte man vielleicht nicht. Für lesewillige Ring-Novizen bietet Bernard Shaws „Wagner-Brevier“ den wohl leichtfüßigsten, schwungvollsten und zugleich intelligentesten Zugang zum Ring. Und dann muss man natürlich die Musik hören. Wer mit dem Text fremdelt, mag erst einmal den „Ring ohne Worte“ von Lorin Maazel hören. Wer nach der Lektüre von Bernard Shaw und dem Hören des „Ring ohne Worte“ keine Lust auf Mehr verspürt, mag sich anderen Komponisten oder Werken zuwenden. Denn so sehr der Ring fasziniert, ist er ja nicht das einzige Bühnenwerk, dem man mit Freude und mit Gewinn erliegen kann.
Zu Wolfgang Kaus Leitfaden geht es hier.
Das Gespräch führte Jasmin Stollberger