Nach den ersten beiden Erzählungen Operation Ratlines. Josefine oder der Gesang der Greisin und Sahara No Man’s Land. Der Aufstand der Mädchen ist nun das Drama Paranoia im Totalitarismus als dritter Teil der Trilogie Apokalypse Humanitas von Marion Leonie Pfeifer beim Verlag Königshausen & Neumann erschienen. Darin beschreibt die Autorin auf eindrucksvolle Weise, was es bedeutet, in einer Diktatur zu (über)leben, und widmet sich somit erneut einem Thema, das zum Nachdenken über gesellschaftliche sowie politische Umstände anregen soll.
Frau Pfeifer, was hat Sie dazu bewegt, sich mit dem Thema „Paranoia im Totalitarismus“ auseinanderzusetzen?
Ich beobachte in vielen Ländern die schleichende Demontage demokratischer Strukturen (Parlament, Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit) zugunsten einer autokratischen Regierungsform. Das war der Beweggrund, mich mit der extremsten Form der Autokratie, der Diktatur, auseinanderzusetzen. Der Stalinismus ist in Paranoia meine Blaupause.
Wie erleben Sie die Wechselwirkung zwischen „Überwachung von oben“ (durch das Regime) und „Überwachung von unten“ (unter Mitmenschen)?
Die Überwachung von oben diffundiert sukzessive nach unten und wird dort nach einiger Zeit als unüberwindbare Realität wahrgenommen; wobei die unteren Gesellschaftsschichten das System des Ausspionierens durch passive Bereitschaft übernehmen. Nicht zuletzt geht es, ab einem bestimmten Punkt, um das Leben und Überleben in einer Diktatur. Wer denunziert wen? Wer denunziert wen zuerst? Das Inhumane wird zur Normalität. Wer die Wahrheit ausspricht, wird, wenn er Glück hat, als Narr abgetan; im schlimmsten Fall festgesetzt. Die Abtrünnigen werden zu Staatsfeinden erklärt. Der Klassenfeind ist ausgemacht. Der Kollaps der Wirklichkeit.
Wie beschreiben Sie den Prozess, bei dem Individuen ihre Autonomie zugunsten der Parteidisziplin aufgeben?
Eine gigantische Propagandamaschinerie infiltriert die Gehirne der Menschen. Damit wird der Bevölkerung eingeredet, das Volk sei als Ganzes wichtiger als das Individuum. Die Genossinnen und Genossen durchlaufen eine systematische Gewaltmaschinerie. Im Innersten ausgehöhlt, erstickt das Volk. Der Sperrkreis wirkt. Die parabolische Kurve der Entmenschlichung erlaubt dem Tyrannen, uneingeschränkt über die Bürger zu verfügen.
In welchem Verhältnis stehen Ihrer Ansicht nach der Individualitätsverlust und der Legitimationsdruck, den das Regime aufbaut, zueinander?
Um der Sache zu dienen, muss das Individuum Opfer bringen, so die Doktrin des Staates. Die Menschen werden zu Marionetten degradiert. Der Diktator verleibt sich seine Kinder ein. Und mit Vorliebe sucht er nach Schuldigen, um sich selbst zu legitimieren. Tiefgreifende Machtsicherung durch unbedingte Linientreue und Konformität. Gesamtgesellschaftliche Auflösung bis zum individuellen seelischen und körperlichen Exodus.
Können Sie ein Beispiel aus Paranoia nennen, in dem dieser Konflikt besonders prägnant dargestellt wird?
Ja, es gibt eine Stelle, die ich gerne herausgreifen möchte: „An einem bestimmten Punkt der Gleichschaltung angekommen, macht es keinen Unterschied mehr, ob die Menschen loyal sind oder nicht, ob sie mutig sind oder nicht, ob sie schuldig sind oder nicht. Sie alle sind austauschbar, sie alle sind potenziell verdächtig. Eine monströse staatliche Täuschung liegt bleiern über der Nation. Die Lüge berichtigt die Faktizität. Der Glaube an ihn ist der einzige Glaube. Er ist der eine des einzigen Staates. Er begründet ihr Sein. Er ist allmächtig.“
Welche Erkenntnisse oder Impulse möchten Sie den Leserinnen und Lesern mitgeben?
Es ist noch nicht lange her, dass die verheerenden Auswirkungen einer Diktatur unsere Nation erschütterten. Wir alle sind Erben dieser Geschichte eines Terrorregimes, das den Holocaust zu verantworten hat. In Operation Ratlines, dem ersten Teil meiner Trilogie Apokalypse Humanitas, setzte ich mich mit dem dunkelsten Kapitel unserer Historie auseinander. Wir alle müssen wachsam sein gegenüber den graduellen, kaum wahrnehmbaren Veränderungen, die zur Erosion der Garanten demokratischer Strukturen beitragen.
Das Gespräch führte Raya Wegner.
Zu den ersten beiden Erzählungen Operation Ratlines. Josefine oder der Gesang der Greisin und Sahara No Man’s Land. Der Aufstand der Mädchen ist ebenfalls ein interessanter Blogbeitrag erschienen, den Sie gerne hier nachlesen können.
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