Manfred Wetzel, geb. 1937 in Nürnberg, lehrte in Hamburg und Berlin. Seit 2001 erscheinen seine sämtlichen Schriften bei K&N.
Heute diskutieren wir mit dem Autor über seine zeitgemäße Reinterpretation von Platon und den modernen Nutzen der Philosophie mit besonderem Fokus auf der Ethik anhand der Politischen Philosophie.
K&N: Namentlich von MINTlern und MINT-like verfahrenden Wissenschaftlern wird gegen die Philosophen ja immer wieder der Vorwurf erhoben, es gibt euch seit 2700 Jahren und ihr seid uneins und zerstritten wie seit eh und je.
Wetzel: Dem liegt ein grundsätzliches Mißverständnis der Philosophie zugrunde: sie hat es im Gegensatz zu den Einzelwissenschaften mit dem Ganzen des Denkens im Verhältnis zum Seienden im umfassendsten Sinne zu tun.
K&N: Wird Ihnen da nicht angesichts der kaum mehr überschaubaren Spezifizierung des Wissens der Vorwurf der Hybris gemacht?
Wetzel: Des Mißverständnisses zweiter Teil: Wie bereits Platon (427-347 v.Chr.), der größte aller Philosophen gezeigt hat, hängt unser Denken und Erkennen an obersten Prinzipien, die sich nur mehr in Gleichnissen angeben lassen.
K&N: Provozieren Sie damit nicht das Mißtrauen der Philosophie-Skeptiker?
Wetzel: Im „Sonnengleichnis“ formuliert Platon das alleroberste Prinzip, im „Liniengleichnis“ eine Hierarchie der Erkenntnisstufen, im „Höhlengleichnis“ den Abstieg ins endliche Denken und Erkennen, wie es de facto abläuft.
K&N: Können Sie das näher erläutern?
Wetzel: Am besten so, daß ich nun einen Sprung mache ins dia- und synchrone gesellschaftliche Dasein der Philosophie wie natürlich auch jeder Einzelwissenschaft.
K&N: Was ist damit gewonnen?
Wetzel: Dazu bemühe ich eine säkulare Transformation von Luthers „Zwei Reiche“-Lehre, die besagt, der Christ ist stets Bürger zweier Reiche.
K&N: Aber war Luther nicht philosophiefeindlich?
Wetzel: Das war er in der Tat, aber hier können wir, wie gesagt bei geeigneter Transformation, doch von ihm etwas lernen, denn auch die Philosophie gibt es ganz genauso nur unter ihren syn- wie diachronen gesellschaftlichen Bedingungen mit all deren Macht- und Herrschaftsverhältnissen.
K&N: Wollen Sie damit die notorische Uneinigkeit der Philosophen erklären oder gar rechtfertigen?
Wetzel: Ich bekenne mich zur philosophia perennis, aber nicht im Sinne der patristisch-scholastischen Philosophie, sondern so, daß es keinen linearen geschichtlichen Verlauf ihrer Themen, Fragestellungen und Antworten gibt.
K&N: Das heißt?
Wetzel: Zu der und der Zeit im Zentrum gestandene Themen verschwinden für Jahrhunderte und einzelne Philosophen werden erst lange Zeit nach ihrem Tod bekannt und diskutiert, so Spinoza einhundert Jahre danach.
K&N: Könnte Ihnen das auch so ergehen?
Wetzel: Dafür spricht einiges.
K&N: Ich hoffe mit Ihnen auf eine kontingente Dialektik.
Wetzel: Vielen Dank. Ich möchte auf unser Ausgangsthema: der von MINT unterstellten Überflüssigkeit der Philosophie zurückkommen, mit Ethik anhand der Politischen Philosophie, – gehört seit Platon zum klassischen Bestand der Philosophie.
K&N: Und alles andere als obsolet.
Wetzel: Wie anhand der BRD „gottlob“ geführten öffentlichen Diskurse zu sehen.
K&N: Die freilich nicht frei sind von Verzerrungen und Falschdarstellungen, ja Agitation, Manipulation, Indoktrination.
Wetzel: Damit langen wir beim Demokratie-Problem an.
K&N: Churchill sagte, die Demokratie ist schlecht, aber alle Staatsformen sind noch schlechter. Hat er Recht?
Wetzel: Realpolitisch wohl ja, aber ich möchte doch auf das klassische Alternativkonzept zurückkommen – es findet sich bei Platon:
„Es wird nicht eher Gerechtigkeit geben in den Gemeinwesen, als entweder die Mächtigen anfangen, wahrhaft uns gründlich zu philosophieren, oder die wahrhaft und gründlich Philosophierenden selbst zu den Mächtigen werden“ –
die natürlich nicht resp. nur im Ausnahmefall die Philosophieprofessoren sind, sondern was vom politischen Handwerk verstehen müssen.
K&N: Dennoch – werden Sie mit diesem Platon nicht die Lacher provozieren?
Wetzel: Wir haben in der Politik mittlerweile jede Menge an Experten, Beratern, Sachverständigen, die sich aber keineswegs immer einig sind und einig sein müssen.
K&N: Ich sehe Ihre zeitgemäße Platon-Auslegung.
Wetzel: Erlauben Sie mir noch eine Schlußbemerkung in eigener Sache: Nach einer einleitenden Kritik an der Sicht der Philosophie, wie sie ihr von den MINTlern entgegengehalten wird, und einem Zurechtrücken ihres status mit Platon sind wir zur Ethik qua Politischer Philosophie übergegangen. Das ist natürlich nur ein Ausschnitt auch aus meiner Philosophie, wie in der vorausgehenden Übersicht angezeigt.












