Mit der Veröffentlichung von „Spuren. Karl Philipp Moritz in der Literatur und Kultur um 1800“ legt K&N eine tiefgreifende Untersuchung über Karl Philipp Moritz‘ Wirken und Werk vor. Das Buch, verfasst von Franziska Solana Higuera, ist das Ergebnis eines 2021 abgeschlossenen Dissertationsprojektes an der Technischen Universität Braunschweig und Teil der Reihe „Epistemata, Würzburger Wissenschaftliche Schriften.“
Ein längst überfälliges Werk
Die Bedeutung von Karl Philipp Moritz war lange Zeit ein blinder Fleck in der Literaturwissenschaft. Erst etwa 100 Jahre nach seinem Tod begannen zaghaft die Bemühungen, sein Werk zu erforschen. Im Jahr 1977 erkannte Tzvetan Todorov in Théories du symbole die Bedeutung von Moritz’ Arbeiten. Doch erst mit Solana Higueras materialreicher Untersuchung erhält die Forschungsgemeinschaft nun ein Werk, das den komplexen Konstellationen der deutschen Literatur, Philosophie und Ästhetik mit Karl Philipp Moritz als Knotenpunkt nachgeht. Mit ihren anregenden Analysen dürfte die Braunschweiger Germanistin das Interesse all jener wecken, die sich intensiv mit dieser Zeit befassen wollen.
Karl Philipp Moritz und die Epoche um 1800
Karl Philipp Moritz (1756-1793) war ein bedeutender deutscher Schriftsteller und Gelehrter, bekannt für seinen Roman „Anton Reiser“. Er hatte vielfältige Interessen in Literatur, Kunstgeschichte, Sprachgeschichte, Pädagogik und Psychologie. Trotz seiner bescheidenen Herkunft erarbeitete sich Moritz eine beeindruckende akademische Laufbahn und wurde eine prominente Figur in der intellektuellen Gesellschaft Berlins. Er war auch mit Goethe befreundet und beeinflusste den Weimarer und Berliner Klassizismus. Moritz gründete das „Magazin zur Erfahrungsseelenkunde“, die erste Zeitschrift für Psychologie, und arbeitete an der Entwicklung der deutschen Grammatik in einer Zeit, in der Französisch die dominierende Wissenschaftssprache war. Sein multidisziplinäres Werk bleibt eine Herausforderung für die heutige Forschung und ein wertvoller Beitrag zur deutschen Kulturgeschichte.
Franziska Solana Higuera analysiert in ihrer Arbeit die Epoche um 1800, in der Karl Philipp Moritz eine bedeutende Rolle spielte. Sie untersucht die Rezeption seiner Theorien zur Erfahrungsseelenkunde und Ästhetik durch nachfolgende Autoren wie Ludwig Tieck und Friedrich Schlegel und zeigt auf, wie Moritz‘ Ideen die literarische Szene dieser Zeit beeinflussten. Dabei fokussiert Solana Higuera insbesondere auf den Ideenaustausch zwischen Moritz und anderen herausragenden Denkern der Epoche wie Wilhelm Heinrich Wackenroder, Jean Paul, Karl Wilhelm Ferdinand Solger, Novalis und Wilhelm von Humboldt, und beleuchtet das komplexe ideologische Netzwerk dieser Zeitperiode.

Im Gespräch mit Franziska Solana Higuera
Wir bekamen die Chance, ein aufschlussreiches Gespräch mit Franziska Solana Higuera zu führen, in dem sie über die Antriebskräfte hinter ihrer Forschung, die Hürden ihres Dissertationsprojektes und ihre künftigen Forschungsvorhaben spricht. Das Interview gewährt einen persönlicheren Blick auf den beruflichen Werdegang der Autorin und die Reise, die zur Entstehung ihres bemerkenswerten Werkes führte.
Liebe Frau Solana Higuera, Sie haben die Werke und das Wirken von Karl Philipp Moritz intensiv erforscht. Was hat Sie speziell dazu bewegt, Ihre Dissertation über Karl Philipp Moritz zu verfassen? Gab es bestimmte Aspekte in Moritz’ Leben und Werk, die Sie besonders ansprechend fanden?
Danke für diese Frage, die ich leicht beantworten kann. Relativ früh in meinem Studium besuchte ich ein Proseminar an der TU in Braunschweig, was den Titel Karl Philipp Moritz trug und von meinem späteren Doktorvater Cord Berghahn geleitet wurde. Hier lernte ich nun u.a. Moritz’ Romane Anton Reiser und Andreas Hartknopf, aber auch die Reisebeschreibungen und seine ästhetischen Schriften kennen, die mich von da an immer mehr faszinierten und durch mein gesamtes Studium begleiteten. Besonders interessant fand ich seine Art ästhetische und auch mythologische Idee in seine Romane und Reisebeschreibungen zu integrieren, oder die Art und Weise wie Moritz Städte beschreibt. Es liest sich nämlich so, als ob er die Leser an die Hand nimmt und sie durch die beschriebenen Orte führt. Das fand ich natürlich auch unter dem Aspekt spannend, da Teile des Anton Reiser in Braunschweig spielen und ich so die geschilderten Erfahrungen auch selbst auf einem Stadtspaziergang nachvollziehen konnte.
Könnten Sie einige der Herausforderungen und Entdeckungen teilen, die Sie im Laufe Ihrer Forschungsarbeit erlebt haben? Welche Quellen und Archive erwiesen sich als besonders hilfreich für Ihre Untersuchungen?
Das ist nicht ganz so leicht zu beantworten. In meiner Arbeit ging es ja darum, die Auswirkungen, die Moritz auf die nachfolgenden Generationen hatte, zu skizzieren und so Rezeptionsprozesse sichtbar zu machen, die so noch nicht erkannt wurden. Wahrscheinlich war die erste Herausforderung einen geeigneten Korpus von Autoren zu erstellen, der aber immer wieder nachjustiert werden musste, damit es nicht zu einer Quellensammlung wurde, sondern zu einer Arbeit, die die Prozesse weitreichend nachvollziehbar machen konnte und Moritz’ Spuren in der Zeit um 1800 aufdeckt. Besonders hilfreich war das Archiv der Uni Göttingen, wo ich die Ausleihbücher der Bibliothek um 1800 noch analysieren konnte und so das Studium von Wilhelm von Humboldt oder auch Wilhelm Heinrich Wackenroder nachvollziehen konnte. Das sind wertvolle Dokumente, die uns auch heute noch viel über die damalige Zeit sagen können, weisen sie doch auf mögliche Lektüren hin, die sich als Spuren in ihren geschriebenen Texten nachweisen lassen.
Können Sie uns über die Art und Weise berichten, wie K.P. Moritz die literarische und intellektuelle Szene um 1800 beeinflusst hat, und über die Bedeutung seiner teils engen Beziehungen, die er zu den großen Namen seiner Zeit pflegte?
Moritz war seit 1789 Professor für die Theorie der schönen Künste an der Königlichen Akademie der Künste in Berlin und in seinen Vorlesungen saßen z.B. Alexander und Wilhelm von Humboldt, Wilhelm Heinrich Wackenroder oder auch Ludwig Tieck.
Bereits davor sah Moritz in Moses Mendelssohn einen Mentor und würdigte ihn in seinen Schriften. Die wohl bedeutendste Freundschaft ist aber die zu Goethe, den er 1786 auf seiner Italienreise traf und der während Moritz’ Genesungsphase (er hatte sich in Italien den Arm gebrochen) für ihn sorgte und in einem Brief an Charlotte von Stein schrieb: „Er [Moritz] ist wie ein jüngerer Bruder von mir, von der selben Art, nur da vom Schicksal verwahrlost und beschädigt, wo ich begünstigt und vorgezogen bin.“ Die hier angedeutete Spiegelung beider Autoren ist mehr als treffend für die Leben, die beide verlebt haben und wie es auch um ihren Ruhm stand, immerhin wurde Moritz schnell von der Nachwelt vergessen, wohingegen Goethe umgehend durch alle Epochen strahlte. Wo Moritz hingegen als Beförderer agierte ist bei Jean Paul, dessen Unsichtbare Loge er an einen Verleger vermittelte und somit dessen Autorschaft am Anfang unterstützte.
Gibt es bestimmte Aspekte von Moritz’ Arbeit, die Ihrer Meinung nach unterbewertet, übersehen, oder von der Literaturwissenschaft falsch eingeordnet wurden?
Moritz’ Spuren aufzudecken war mein Herzenswunsch und das konnte ich in der Dissertation zeigen. Gegen sein Vergessen zu arbeiten, ist wohl eines der wichtigsten Anliegen, was die Wissenschaft leisten sollte.
Vielleicht ist ein anderer Punkt, dass seine Modernität lange nicht erkannt wurde. Moritz wird hartnäckig als ein Vor-Denker der Klassik gehandelt, insofern seine Bildende Nachahmung des Schönen als Gründungsmanifest der Autonomieästhetik gilt. Die Bedeutung der Schrift wird nicht zuletzt durch die passagenweise (Wieder-)Veröffentlichung in Goethes Italienischer Reise unterstrichen und dient als Beweis, dass auch der späte Goethe Moritz schätzte und sein Denken als zentral für die eigenen Projekte sah. Zugleich führten Goethes Zitate nicht zu einer breiten Anerkennung von Moritz‘ Ideen, sondern umgekehrt wurde der Anstoß zur Denkleistung direkt Goethe zugesprochen – eine Ironie, die sich bemerkenswert konsequent durch Moritzʼ Wirkungsgeschichte zieht. Durch Goethes Prominenz werden wichtige Rezeptionslinien doppelt verstellt: Einerseits nämlich rückt Moritz lediglich als Goethes „jüngerer Bruder“ ins Bild, andererseits bleibt die Wechselwirkung zwischen Moritz und den Romantikern unterbelichtet. Diese Aspekte habe ich in meiner Dissertation untersucht und somit der vergessenen oder besser gesagt übersehenen Rezeption entgegengewirkt.
Verfolgen Sie bereits Pläne für kommende Forschungsprojekte, die entweder auf Ihrer Dissertation aufbauen oder sich in eine neue Richtung bewegen?
Ja, ich bin momentan dabei ein neues Projekt zu entwickeln, was allerdings in eine andere Richtung gehen wird und die Wechselwirkungen von Medizin und Literatur untersuchen soll. Ziel soll es sein, eine Medizinische Poetik zu skizzieren, die sich zwischen dem 18. Jahrhundert und der Gegenwart erkennen lässt.
Allerdings wird Moritz immer einer meiner Schwerpunkte bleiben und wer weiß, vielleicht kann ich ja auch bald wieder zu ihm arbeiten. Manche Themen begleiten einen sein gesamtes (wissenschaftliches) Leben.
Interview: Bogdan Schmidt (K&N), September 2023