Von Stefan Keppler-Tasaki

Der Schriftsteller Wolf Wiechert, der heute, am 31. März 2023, seinen 85. Geburtstag feiert, hat das Kulturleben von Wertheim am Main fast sechs Jahrzehnte lang begleitet und für über vier Jahrzehnte geprägt.

 

1965 trat er den Schuldienst am geschichtsträchtigen Gymnasium der fränkischen Kleinstadt an. Die zu Beginn der Reformation gegründete Lehranstalt wurde gerade von Wolfram-von-Eschenbach-Schule in Dietrich-Bonhoeffer-Gymnasium umbenannt. Der Wolfram-Name, der sich gut mit Wiecherts literarischen Ambitionen einschließlich seiner vielbeachteten, 2013 bei K&N erschienenen Neuerzählung des Parzival verbunden hätte, war ein nationalsozialistischer Propaganda-Coup aus dem Herbst 1937, ein halbes Jahr vor Wiecherts Geburt im Deutschordensland Ostpreußen.

Überlegungen, den mittelalterlichen Parzival-Dichter und mutmaßlichen Dienstmann der Grafen von Wertheim in den Markenkern der Tourismus-Stadt aufzunehmen, gehen bis ins Jahr 1917 zurück. Der erfolgreiche Vorstoß erfolgte allerdings erst unter dem Kreiskulturwart der NSDAP, dem Schulleiter und promovierten Altphilologen Eugen Glassen. Die noble Bezeichnung war im Übrigen ein Trostpflaster für die gleichzeitige Herabstufung des neunjährigen humanistischen Gymnasiums zur nur noch achtjährigen „Oberschule für Jungen“.

Während seiner Arbeit am neuen Parzival engagierte sich Wiechert in einer „Parzival-Projektgruppe“ sowohl für die „Parzival-Spirale“ auf der Wertheimer Burg als auch für den „Parzival-Rundgang“ durch die historische Altstadt. Die 2011 angelegte Spirale besteht aus 18 runden Steinplatten, von denen jede einen Figurennamen aus dem mittelhochdeutschen Roman trägt. Der Rundgang wurde erstmals 2012 als flexible Intervention mit über die Gassen gespannten Textbannern realisiert. Wiechert schlug die 14 Wolfram-Zitate vor, die auf Deutsch (nach der Übertragung von Dieter Kühn) und Englisch durch die Altstadt und gleichzeitig durch den Roman führen. Eine 2006 auf der Burg aufgestellte, später an die Schiffsanlegestelle am Main versetzte blaugrüne Glasstele trägt die Inschrift von Wiecherts Gedicht Burg Wertheim, das mit der Vision eines in den Burghof einreitenden Parzival endet.

Wertheim mit seiner historischen Altstadt und imposanten Burganlage, seiner akkuraten Einbettung in die Landschaft von Main und Tauer erwies sich nach Lebensstationen in der Lausitz und Heidelberg als günstiges Biotop für den Mittelalterenthusiasten und Meister des Naturgleichnisses. Ein Pathos der Fremdheit „in diesen Breiten“ hat er gleichwohl nie ganz abgelegt.

Cover zu Parzival (ISBN 9783826051388)

Zu den Urerlebnissen Wiecherts gehört die Flucht aus Ostpreußen im Winter 1945, die Flüchtlingsexistenz im Kantorat von Neukirch bei Bautzen und der nächtliche Aufbruch aus der DDR zum Studium nach Heidelberg. Der in Königsberg geborene Vater Erich Wiechert (1901–1945), Dorflehrer von Skandau im Regierungsbezirk Königsberg, hatte als knapp 40-Jähriger am Westfeldzug teilgenommen, wurde aber wegen Krankheit freigestellt und erhielt die Aufsicht über die Grundschulen im Landkreis Gerdauen. Soldaten der Roten Armee verschleppten ihn im März 1945 aus dem Flüchtlingstreck, der inzwischen in Hinterpommern angekommen war.

Wolf-Dieter, so der Taufname des Dichters, wurde von seiner Mutter und der Kinderfrau Rosa Puppke aufgezogen, die er in seinen vierten Roman, Rosa. Eine kontrollierte Spekulation (2019 ebenfalls bei K&N erschienen), als persönliche Schutzgestalt und zugleich als eine Verkörperung preußischer Geschichte aufstellte. In einem von Wiecherts besten Gedichten, Altes Foto, ist von Ostpreußen als von „meiner Bärenfangheimat“ die Rede (Bärenfang: ein traditioneller ostpreußischer Honiglikör).

Cover zu Rosa (ISBN 9783826066658)

„Bei den Roten bleibst du nicht!“, so die Mutter, Lisbeth Wiechert, geb. Plaumann (1905–1987), die ihn im Juli 1956 mit einer Tasche Essenssachen auf die Fahrradfahrt nach West-Berlin schickte. Von dort kam er im Laderaum eines LKWs nach Lauenburg an der Elbe und fuhr mit dem Fahrrad weiter zu einem Onkel in Lübeck. Das Abiturzeugnis hatte er bereits aus Berlin per Post an den Onkel geschickt, um bei der Ausreisekontrolle keinen Verdacht zu erregen. Die Mutter zog wenig später nach Heidelberg nach und folgte ihrem Sohn auch 1965 nach Wertheim, wo sie 1987 verstarb.

Während sein vier Jahre älterer Bruder Hans-Joachim Ingenieur wurde und in Wolfsburg daran arbeitete, „Probleme der Lebensqualität durch/ erstklassige Verarbeitung zu/ lösen“ (aus: Wolfsburg), studierte er mittelhochdeutsche Literatur bei Peter Wapnewski, Goethe und Kafka bei Arthur Henkel und Wieland bei Friedrich Sengle. Bei Letzterem schrieb er seine Examensarbeit über die Sprache Johann Peter Hebels. Sengles Votum „nicht übel“, mit dessen Kürze sich heute kein Student zufriedengeben würde, freute ihn. Ein amüsierter Kult der Persönlichkeit, der sich durch Wiecherts Romane zieht, stammt nicht zuletzt von seiner Bewunderung für den Duktus dieser Germanistengeneration. Für die „sozialistische Funktionärsaristokratie“, wie sie im Erzählband Das Treffen im Schloß (1999) berührt ist, hatte er dagegen wenig Respekt übrig.

Individualismus und Menschlichkeit waren gelebte Lektionen des Deutschlehrers Wiechert, dem in über 40 Dienstjahren ein gewisser Guru-Status zufiel. Zur Festschrift 625 Jahre Lateinschule Wertheim (1998) trug er seine Erinnerungen an die 68er-Bewegung in Wertheim bei, die insbesondere von dem drei Jahre älteren Lehrerkollegen Fritz Güde angeführt wurde, dem Sohn des Bundestagsabgeordneten und früheren Generalbundesanwalts Max Güde. Die Proteste gegen den 4. Bundesparteitag der NPD, der im Februar 1970 in der neu gebauten Main-Tauber-Halle zusammentrat, belebten die linke Szene der kleinen Stadt. Dabei mitschwingende Verteidigungen des Ulbricht-Staates fanden bei Wiechert keine Unterstützung.

Auch das 1969 beschlossene „Bildungszentrum“ in Wertheim-Bestenheid, eine baden-württembergische Annäherung an die Gesamtschule, bedachte er, der in der DDR schon kein klassisches Gymnasium mehr, sondern eine Erweiterte Oberschule besucht hatte, mit begrenzter Sympathie. Der Charismatiker Wiechert bot seine eigenen „Alternativen zum kapitalistischen Leistungsprinzip in der Schule“ (Güde), der Dichter seine eigene Kritik an den Verhältnissen und am Vergessen: „Die Bauern arbeiten/ in der Fabrik./ Die Wölfe sind längst/ erschlagen“ (Mittag auf dem Lande), „Stalingrad/ heißt Wolgograd jetzt/ geh endlich einkaufen“ (Dezember).

Frühzeitig interessierte er sich für die Zusammenarbeit mit Bildenden Künstlern und für das Zusammenspiel von Text und Bild. Eine Lebensfreundschaft verband ihn mit dem Frauenarzt und Maler Dietmar Wappler (1938–2010), genannt Holzmann (siehe die Widmung zum Gedicht Achat), der 1967 aus Heidelberg nach Bautzen zurückkehrte. Wappler malte großformatig in Öl, darunter ein Porträt von Wiecherts Studienfreundin und erster Ehefrau, mit der er zwei Kinder hat. Das Treffen im Schloß, dessen Titelerzählung sich auf ein Klassentreffen von 1988 im mecklenburgischen Schloss Lebbin bezieht, illustrierte Wappler mit elf Landschaftszeichnungen. Bereits 1980 schuf der früh verstorbene, in Wertheim und Karlsruhe tätige Bildhauer Roland Kuch (1946–1992) 13 Farbholzschnitte zu Gedichten aus Beschreibung eines Interesses oder einer Liebe (abgebildet in Fly up wind, 2002). Der bekannte Konzeptkünstler Ottmar Hörl, der ein Studio im Wertheimer Umland besitzt, steuerte 21 verfremdete Naturaufnahmen zu den 63 Gedichten der Sammlung Restsüße (K&N 2022) bei. Sie machen sich die „Neutralität der Bäume“ (Im Kolbenholz) zunutze, zu der Wiechert früh Zuflucht genommen hat.

Wiecherts Entschluss, sich mehr auf das Schreiben zu konzentrieren, fiel in die Mitte der 1970er Jahre. Der Umgang mit freischaffenden Künstlern wie Roland Kuch und Otto Eder (1924–1982) vom Bildhauersymposion Krastal, die ihre Arbeit absolut setzten, bestärkte ihn darin. Im November 1979 sandte er ein Gedicht mit dem Titel Irgendwo in Itzehoe, Kunert dem Älteren an Günter Kunert, der im Vormonat unter großem Aufsehen aus der DDR ausgereist war und sich in Schleswig-Holstein niedergelassen hatte. Die Selbstaffiliation von Wiechert dem Jüngeren an Kunert den Älteren lag thematisch nahe – es geht um deutsch-deutsche Ortsbestimmungen, um die Reflexion von Biografie und Geschichte in der Landschaft und in Naturmomenten. „Und jede Scherbe schafft Verlangen/ nach Ganzheit: Wie sie niemals war.“ (Kunert: Achtzeiler) In der von seinem Würzburger Freund Evangelos Konstantinou herausgegebenen Zeitschrift Philia schrieb er noch 2004 über eine Anthologie von Kunerts Texten (Kunerts Antike). Der Gedichttitel Altes Foto spielt auf Kunerts Gedicht Altes Foto alter Straße von 1969 an.

Die Freilegung des Schriftstellers Wiechert, der den Kindheitsroman Bach oder Eine deutsche Bildbeschreibung (1987) sowie die Gedichtbände Beschreibung eines Interesses oder einer Liebe (1980), Achat (1989) und Blutprobe (1991) vorlegte, war mit einer Erschütterung seiner Mitte der 1960er Jahre gefundenen Lebenseinrichtung verbunden. Es war seine Revolution im Buchstabensinn der Kehrtwende, der Beginn des „Waldbauern- und Dichterlebens“, wie er es bis heute nennt.

Das Kleinfamilienleben im Bungalow, dessen „Rasenquadrat“ ins Gedicht Mondschatten einging, nahm ein Ende, ein Ende „der Blick auf die Reihe Garagen“ (Umzug II). Am 18. Februar 1976 bezog er mit seiner neuen Partnerin ein um 1710 gebautes Bauernhaus, genannt Veit Hanses Haus, im Höhenort Nassig vor der Waldung Wolfsbusch. Die Eingesessenen wunderten sich über den Auswärtigen, der sich gegen Widerstände ins Land einkaufte. Der „Wolf“, „von Osten her eingewechselt“, den „abseits vom Rudel“ manchmal noch „die Angst, die Trauer“ trifft (Biographie), sollte wieder heimisch werden. Diese symbolische Restitution umfasste einen ganzen Hausrat („Priamos’ Schatz“, Troja) bis hin zum Klavier und Meißner Porzellan.

Das historische Haus in der Steingasse, von der Stadtplanung als „ortsbildprägend und erhaltenswert“ ausgewiesen, entwickelte sich nicht allein zum Heim einer großen Familie, sondern auch zum Mittelpunkt eines weiten Freundeskreises. Der „Dichterturm“, ein 1993 vollendeter Turmanbau, erhielt Zeichencharakter für die örtliche Konzentration von Gesprächen und Projekten.

Wiecherts Lebenswende um 1975 hatte ihn unter die verschärfte Beobachtung der Kleinstadtgesellschaft gestellt. Der „Ikarus Albatros“ gab diesen Blick zurück, indem er Wertheimer Figuren in seine Gedichte und Geschichten verwob. Auch in diesem Sinne ist die Schlusswendung seines Gedichts Augenblick zu verstehen: „Du solltest dich wirklich/ mal sehen/ mit meinen Augen“. „Unaufhaltsam kreis ich sie ein/ und halte den Federschmuck bereit“, heißt es über „die Leute“ im Gedicht Biographie. Wiecherts semi-autobiografische Romane wie Bach oder Eine deutsche Bildbeschreibung, Rosa. Eine kontrollierte Spekulation und Der Kaktus (2008) enthalten ironische Vorbemerkungen über diese Befiederung der Zeitgenossen. Endgültig zum Mythos wird Wertheim im Bild der Stadt Helbingen in Der Kaktus, einer fantastischen Recherche, die sich unter anderem aus dem Leben des Castrum Peregrini-Gründers Wolfgang Frommel (Ps. Lothar Helbing) bedient.

Ein weiteres Lebenselixier hat Wolf Wiechert inzwischen in der Zusammenarbeit mit dem Komponisten Alexander Wolf gefunden. Das Liederalbum Besser du redest nicht weiter darüber (2019) erhielt bemerkenswerte Kritiken, und die Spieloper Mozart – ein Sommermärchen (2021) feierte Premiere auf dem Mozartfest Würzburg. Der Dichter scheint ein neues Mittel für seine alte Taktik entdeckt zu haben: „Die Fenster putz ich dem Meister dem Tod/ damit er mich sieht/ und nicht versehentlich kommt“ (Taktik).

Königshausen & Neumann schließt sich mit herzlichen Gratulationen an.

Wolf Wiecherts bei K&N erschienene Titel finden Sie hier.