Die ARD-Dokumentation „Ärzte ohne Gewissen“ über das Wirken namhafter Ärzte in der NS-Zeit deckt 1996 die Menschenversuche auf, die der international renommierte Neurologe Prof. Dr. med. Georges Schaltenbrand im Rahmen seiner Multiple Sklerose Forschung durchgeführt hatte. Die Sendung löst einen familiären Schock und emotional aufwühlende Forschungsarbeiten aus, mit denen sich die Nachkommen den quälenden Fragen stellen. Nach jahrelanger wissenschaftlicher Aufarbeitung präsentiert Prof. Dr. Alf Mintzel diese biographische Annäherung an seinen Schwiegervater Georges Schaltenbrand. Zahlreiche bisher unveröffentlichte Korrespondenzen und Tagebucheinträge aus den Jahren 1916 bis 1970 geben Einblick in die komplexe Gedankenwelt eines Vertreters der damaligen medizinischen Funktionselite und beleuchten den berufsethischen Streit über das sogenannte „Schaltenbrand-Experiment“ aus unterschiedlichen Blickwinkeln:
Herr Mintzel, wie haben Sie Ihren Schwiegervater zu Lebzeiten erlebt? Und wie hat sich ihr Bild von ihm nach der Veröffentlichung der ARD-Dokumentation und der darin enthaltenen Vorwürfe verändert?
Ihre Frage zielt auf zwei unterschiedliche Perspektiven ab: auf die Persönlichkeit eines Forschers, wie ich ihn zu seinen Lebzeiten kennen gelernt und aus nächster Nähe persönlich erlebt habe. Es dreht sich um meinen Schwiegervater, der international eine hochgeehrte Koryphäe der Neurologie war. Und es geht um die Person, die am Abend des 21. Oktober 1996 in der ARD-Dokumentation “Ärzte ohne Gewissen” vorgestellt worden ist. Die Familie Schaltenbrand sah sich mit einem Foto und mit Vorwürfen konfrontiert, die sie bis zu diesem Abend nicht gekannt hat. Das in der Familie gepflegte schöne Vaterbild zerbrach. Die Berichterstattung hatte einen Schock ausgelöst, der zunächst ratlos machte. So erging es auch mir. Den in der Dokumentation dargestellten Arzt und seine angeblich schwerwiegenden berufsethischen Verfehlungen in der NS-Zeit kenne ich nicht.
Wie reagieren? Was tun? Wie damit umgehen?
Die einzelnen Familienmitglieder fanden allmählich Antworten darauf. Es waren sehr unterschiedliche, spannungs- und konfliktreiche Antworten. Wir befragten die Witwe Schaltenbrands. Sie stand zu diesem Zeitpunkt im Alter von 98 Jahren, war aber noch erstaunlich klar im Kopf. Was wusste sie aus der alten Konfliktgeschichte zu berichten? Ihre Antwort: “Am besten nicht daran rühren.”
“Frau Professor” entschied sich bis zu ihrem Tod (1999) darüber zu schweigen. Ein zeittypisches Verhaltensmuster der älteren Generation, das auch heute noch wirksam ist. Der 1979 verstorbene Neurologe Prof. Dr. med. Georges Schaltenbrand wird in der ARD-Dokumentation als SA-Mann in Uniform gezeigt und bezichtigt, in der NS-Zeit im Rahmen seiner Forschung über die Multiple Sklerose Versuche an Menschen vorgenommen zu haben. Schaltenbrand habe die Richtlinien für neuartige Heilbehandlung und Forschung am Menschen, die 1931 von den Staatsministerien verordnet worden waren, missachtet und gegen berufsethische Handlungsgebote der Medizin verstoßen. Seine Kritiker und Gegner bezeichnen Ihn in ihren Stellungnamen und Gutachten als einen vom Ehrgeiz getriebenen Nazi, der seine MS-Forschung im Geiste des Nationalsozialismus betrieben oder zumindest Nutzen aus den damaligen Zeitumständen gezogen habe. Stimmt das? Entsprechen die Vorwürfe den Tatsachen?
Ich wurde von den dokumentierten Fakten und Vorwürfen völlig überrascht. Ich habe ihn seit 1953 gekannt und persönlich aus nächster Nähe erlebt: privat, beruflich und öffentlich. Wir haben in späteren Jahren viele Gespräche geführt: Über Fragen der naturwissenschaftlichen Anthropologie, über Kulturgeschichte, über Politik und Religion. Von der alten Konfliktgeschichte in seiner MS-Forschung war nie die Rede gewesen.
Als Wissenschaftler und Hochschullehrer hatte er für mich eine Vorbildfunktion. Die war jetzt in Frage gestellt.
Was war Ihre primäre Motivation, Nachforschungen anzustellen und letztlich dieses Buch zu schreiben? Warum haben Sie sich damals bewusst dagegen entschieden, die Vergangenheit Ihres Schwiegervaters zu verschweigen bzw. „ruhen zu lassen“?
Meine primäre Motivation, Fakten und Vorwürfe zu überprüfen und mir möglichst in eigenes Urteil zu bilden, war zwar wissenschaftlich fundiert, hatte aber immer auch außerwissenschaftliche Bezüge. Ich folge hier der Wissenschaftslehre des großen Soziologen Max Weber. Jede Auswahl eines Gegenstandes der Forschung ist wertbehaftet und wertegesteuert. Ich erinnere an den Werturteilsstreit in den Sozialwissenschaften. Die Frage, ob eine biografisch-analytische Studie, die noch dazu einen umstrittenen Verwandten zum Gegenstand hat, genügend Abstand gewinnen und bewahren kann, liegt nahe.
Könne da nicht am Ende doch nur eine Rechtfertigungs- oder Entlastungsschrift herauskommen? Selbst wenn es eine Verteidigungsschrift wäre, würde sie ein legitimes Unterfangen sein. Entscheidend für die wissenschaftliche Seriosität und Qualität einer Studie ist, ob sie den Regeln der Logik und wissenschaftlicher Methodik folgt. Sie muss interpersonal überprüfbar sein. Auch der Wertekanon muss, so verlangt es die medizinische Berufsethik, offengelegt sein.
Das gilt für Schaltenbrands Standardwerk über “Die Multiple Sklerose des Menschen” (1943) und die darin entfaltete Forschungsarbeit ebenso wie für die wissenschaftlichen Gutachten seiner Kritiker und Gegner. Deshalb habe ich in meinem Buch die wichtigsten Gutachten fast vollständig wiedergegeben, um Kontrollen zu ermöglichen. Schaltenbrands Werk ist auch einer scharfen methodischen Kritik unterzogen worden. Entweder sind angewandte statistische Verfahren und Schlussfolgerungen richtig oder falsch. Eine “neutrale Position” gibt es in diesem Sinne nicht.
Das gilt auch für den Schwiegersohn. Solange Fakten und Daten zur Klärung nicht ausreichen, kann von unentschieden die Rede sein. Unentschieden ist aber nicht neutral.
Welche Aspekte oder Passagen in den Tagebucheinträgen Ihres Schwiegervaters oder in anderen Quellen sind Ihnen nachhaltig in Erinnerung geblieben?
“Am besten nicht daran rühren.” (Luise Schaltenbrand, 98 Jahre alt). Und andere mehr.
Mit welchen Herausforderungen wurden Sie und auch Ihre Frau in fast dreißig Jahren Aufklärungsarbeit konfrontiert?
Die Herausforderungen waren ganz verschiedener und vielfältiger Art. Zunächst stellte sich für die Familie die Aufgabe zu klären, wie auf die Veröffentlichungen und Darstellungen der ARD-Dokumentation reagiert werden sollte oder gar reagiert werden muss. Eine Tochter Schaltenbrands schämte sich für die Experimente ihres Vaters so sehr, dass sie froh war, nicht mehr den Familiennamen zu tragen. Sie, Fachärztin von Beruf, weigerte sich, an einem innerfamiliären Aufklärungsprozess Teil zunehmen. Die andere Tochter befürchtete bei Gängen in die Stadt Spießrutenläufen ausgesetzt zu sein. Ihre Ängste vor sozialer Isolierung und Stigmatisierung blockierten anfangs eine klare Entscheidung. Der Sohn Schaltenbrands, Psychologe und Erziehungsberater, übernahm nach langen gemeinsamen Diskussionsrunden die Transkription der bisher unbekannten und geheimen Tagebücher seines Vaters. Ich fand mich, sozialwissenschaftlich ausgedrückt, in der Rolle eines teilnehmenden Beobachters, der kein Zugriffsrecht auf den Nachlass meines Schwiegervaters hatte. Solange mein Schwager noch lebte, hielt ich es vor allem für seine Aufgabe, den Nachlass zu ordnen und auszuwerten oder einem Archiv zu übergeben. Die Kärrnerarbeit übernahm schließlich meine Frau, die jahrelang das dokumentarische Material sichtete, Korrespondenzen führte und Dokumente selektiv zugänglich machte. Ich unterstützte sie dabei und plädierte im Sinne der Suche nach Wahrheit für eine Veröffentlichung. Es kostete sie viel Überwindungskraft, den Gedanken an eine Publikation zu akzeptieren.
Inwieweit ist die Akte Ihres Schwiegervaters noch immer nicht abgeschlossen und inwiefern stellen Sie auch nach der Veröffentlichung weitere Nachforschungen an?
Erst nach der Ausstrahlung der ARD-Dokumentation “Ärzte ohne Gewissen” entdeckte die Familie die weggesperrten Tagebücher meines Schwiegervaters. Sie brachten eine besondere Herausforderung mit sich, denn sie enthielten eine überaus große Fülle von Informationen ans Licht. Er hatte sie von 1916 bis 1970 geführt, obschon mit zeitlichen Unterbrechungen. Er bezeichnet die Hefte als den “verschwiegenen Ort”, an dem er sagen und niederschreiben kann, was ihn bewegt, was ihn widerfährt, worüber er sich ärgert und was er beobachtet. Je länger und genauer wir uns in die (schwer lesbaren) Hefte einlasen, desto klarer wurde, dass wir daran waren, einen “Schatz” zu heben, der weit mehr enthielt als nur trockene Lebens- und Arbeitsberichte. Seine Tagebücher ähneln denen von Victor Klemperer, der ebenfalls unermüdlich notierte, was er von seinem Blickwinkel aus beobachten konnte. Georges Schaltenbrand und Victor Klemperer, ersterer Naturwissenschaftler, der andere Romanist und Kulturwissenschaftler, waren beide passionierte Beobachter, allerdings mit unterschiedlichen Absichten. Klemperer, ein zum Protestantismus konvertierter Jude. “will Zeugnis ablegen bis zum letzten Tage”. Beide waren in je spezifischer Weise “Kulturgeschichtsschreiber der Katastrophe” (Walter Nowojeski, Herausgeber der Tagebücher Kemperers). Mir war nach der Entschlüsselung der Tagebücher Schaltenbrands jedenfalls klar, dass dieser “Schatz” veröffentlich werden muss. Es geht dabei nicht mehr primär um Fragen der Verstöße Schaltenbrands gegen die medizinische Berufsethik, sondern um Einsichten und Einblicke in “Die Welt von Gestern” (Stefan Zweig). Aus seinen Tagebüchern tritt die hochragende Gestalt eines Bourgeois, Hirnforschers und Kosmopoliten hervor, eine komplexe Forscherpersönlichkeit, ein Weltbürger, der ein großer Arzt wurde und alle Spießermentalität verachtete. Leben und Werk Georges Schaltenbrands sind mit meiner biographischen Veröffentlichung von 2023 noch längst nicht aufgearbeitet. Sein reicher Nachlass führt in die Zeiten des deutschen Kaiserreiches, der Weimarer Republik, der NS-Diktatur und in die Bundesrepublik Deutschland zurück. Es bleibt noch Vieles aufzudecken und zu klären. Die jüngst erschienene große Studie “Talar und Hakenkreuz” von Michael Grüttner zeigt, auch “Die Akte Georges Schaltenbrand” ist noch nicht geschlossen.
Das Buch ist im September 2023 bei K&N erschienen. Weitere Informationen finden sich hier.
Paulina Carl, K&N