Kurt Weiss ist Physiker. Seine internationale Karriere oszillierte zwischen Hochschule und Industrie. Im Unruhestand beschäftigt er sich mit dem Einfluss der sich rasant verändernden Informationstechnologie auf das Zusammenleben der Menschen. Insbesondere mit der Notwendigkeit, die damit verbundenen tiefgreifenden Veränderungen zu leben. Außerdem interessiert er sich für die Hirnforschung, wo er den Beginn eines Paradigmenwechsels vermutet.
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Über Leben
über das kurze Leben der menschlichen Spezies. Mit einer düsteren Diagnose und einem Hinweis auf mögliche Rettung aus eigener Kraft
von Kurt Weiss
Leben
Vor ungefähr 4.6 Milliarden Jahren entstand die Erde. 600 Millionen Jahr später durch Zufall das Leben. In Form von kernlosen Einzellern in mancherlei Varianten. Heute sind über 2 Millionen Arten beschrieben. Eine ungeheure Vielfalt an Lebensformen. Zum Beispiel Grottenolme. Sie sind ungefähr dreissig Zentimeter lang, leben in kühlen Höhlengewässern, haben funktionslose Augen, können Licht schwach über die Haut wahrnehmen. Sie haben Lungen und unbrauchbare Kiemenbüschel. Auch fortpflanzungsfähige Exemplare haben Larvenmerkmale. Eine von Hunderten von Tier- und Pflanzenarten in einem funktionierenden Ökosystem. Die Populationen der verschiedenen Tier- und Pflanzenarten sind im natürlichen sich ständig ändernden Wechselspiel. Jede Art leistet ihren Beitrag. Das dynamische biologische Gleichgewicht wird stetig überwacht. Alles was die Moleküle hergeben geschieht. Lass die Moleküle rasen,/was sie auch zusammenknobeln!/Lass das Tüfteln, lass das Hobeln./Heilig halte die Ektasen! (Christian Morgenstern). Alles hängt zusammen. Alles ist Futter, alles braucht Futter. Alles wird geboren. Alles pflanzt sich fort. Alles stirbt. Die Lebensmaschine.
Homo Sapiens
Er ist seit etwa 300‘000 Jahren in der Welt. Bis vor ungefähr 30‘000 Jahren ausserdem parallel und in Konkurrenz zum Homo Neanderthalensis, der damals aus bisher ungeklärten Gründer ausstarb. Auf den ersten Blick war der Homo Sapiens von der Natur schlecht zum Überleben ausgerüstet. Er kann weder fliegen noch schwimmen. Er kann nicht besonders schnell laufen. Er ist nicht besonders kräftig, er ist nicht besonders gross. Er ist sehr temperaturempfindlich. Er hat keine Krallen, keine Reisszähne, keinen Giftstachel. Er ist gegen Gifte kaum resistent. Er hat einen vergleichsweise schlechten Gesichtssinn, kein besonders gutes Gehör, einen unzuverlässigen Geschmackssinn, keine nennenswerten taktilen Fähigkeiten und einen nicht mehr als akzeptablen Geruchssinn. Seine Reproduktion ist kompliziert und aufwendig, die Produktionsrate ist gering und die naturgegebene Ausfallrate ist hoch. Es gibt keine Garantieleistungen. Der Mensch ist anfällig für Krankheiten und Unfälle aller Art. Er ist schwierig zu reparieren. Sein Leben ist kurz, wenn er die komplexen Vorkehrungen, die er erst seit kurzer Zeit beherrscht, nicht trifft. Aber der Mensch wurde möglich. Er überlebte im unbarmherzigen Wettbewerb der Natur, weil er sich als Technologe Dinge ausdachte und schuf, um sich gegen die Widrigkeiten zu stemmen, die ihn umgeben. Er begann die Schwächen seiner Spezies durch technische Hilfsmittel, durch Werkzeuge und komplexe Maschinen zu kompensieren. Er begann die Konkurrenz zu übertreffen. Er überlebte seine allmähliche Geburt. Und trotzdem muss er sich Sorgen machen. Ernsthafte. Denn er ist je länger desto weniger Herr im eigenen Haus. Er leidet in stark zunehmenden Masse am Morbus Homo Sapiens. Er selber ist die Krankheit an der er leidet. Oder um aus den Asinaria von Plautus zu zitieren: Homo homini lupus.
Auf dem Krankenbett
Der Homo Sapiens liegt auf dem Krankenbett. Zwar überlebte er nicht nur Naturkatastrophen aller Art, sondern auch, mehr schlecht als recht, Mord und Totschlag, Stammesfehden, Kriege, Despotien, Ausbeutung, Genozide und unzählige andere selbstverschuldete Menschenkatastrophen. Er überlebte bisher sogar die Schwächen seiner eigenen Vernunft. Zwar hält er gemäss seiner pathetisch formulierten Weltanschauung Neid, Völlerei, Gier, Wollust, Hochmut. Trägheit und Zorn für schädlich. Ohne wirksam dagegen vorzugehen allerdings. Er lobt in salbungsvollen Texten und Predigten von allen möglichen Kanzeln Güte, Hilfsbereitschaft, Nächstenliebe und Barmherzigkeit ohne praktisch etwas Entscheidendes dafür zu tun. Er vertraut auf die immensen wissenschaftlichen, technologischen und medizinischen Fortschritte, die er mit wachsender Beschleunigung in den letzten Jahrhunderten erzielt hat. Immense Fortschritte. Ohne Zweifel. Wie aber setzt er sie um? Kernenergie entwickelt er aufs Intensivste als Kriegswaffen. Zur Lösung von Energieversorgungsproblemen aber betrachtet er sie mit grösstem Misstrauen und stoppt ihre weitere, vergleichsweise bereits technisch voll ausgereifte und anwendungssichere Verwirklichung. Der immense logistische Nutzen der in den letzten Jahrzehnten explosionsartig entwickelten Digitalisierung ist in den Köpfen der Menschen noch längst nicht angekommen. Ein riesiges Potential liegt brach. Liegt nicht hier die Antwort auf die Frage, ob der Homo Sapiens eine Zukunft hat? Als Lebensmaschine!
Alienation
Der Homo Sapiens und die Welt sind sich fremd geworden. Der Mensch versucht in einer Welt zu leben, die er sich vorstellt, statt alles daran zu setzen, in der Welt zu überleben, die er vorfindet. Er glaubt sich die Welt zu Eigen machen zu können und merkt nicht, dass er nicht die geringste Chance hat, sie in ihrer Grundstruktur auch nur annähernd zu verändern. Die Grundstruktur, die er mit enormen Forschungsanstrengungen, mit beachtlichem Erfolg, zwar immer besser ergründet, ohne aber gelernt zu haben, diese Erkenntnisse auch nur annähernd zu seinem Vorteil umzusetzen. Die Lebensmaschine des Homo Sapiens und die von ihm selber geschaffenen Wissenschafts- und Ingenieursmaschinen laufen nicht synchron. Es fehlt die Fähigkeit das Irrationale im Menschen konsequent zu nutzen, um den Weg in die rationale Welt zu ebnen.
Synthese
So dass das kreativ Irrationale im Rationalen aufgeht. Für jede Spezies eine äusserst komplexe Synthese von chemischen Elementen mit weitgehend identischen Bauplänen für die einzelnen Individuen. Baupläne, die zufälligen Veränderungen unterworfen sind. Die in der Umsetzung erfolgreiche Variationen entstehen lassen und damit überleben während andere verschwinden. Hier ist das Material, um die physischen Grundlagen des Homo Sapiens immer vollständiger und integrierender zu verstehen. Rationalität und Wissenschaft sind die Wege zur Synthese von Lebensführung und Realität. Ergänzt durch das freie, irrationale Spiel des Denkens, das immer neuen, besser passenden Puzzleteilen gleich, ein adäquateres Bild der Welt zu entwerfen versucht und möglich macht. So dass die Synthese des Denkens mit dem Geschehen in der Welt immer näher zur Synthese des Lebens der Individuen mit der Realität führt.
Homo Synappsiensis
Das Kreative ermöglicht das Rationale. Zum Beispiel, wenn Albert Einstein im Jahre 1905 als Beamter dritter Klasse im Patentamt zu Bern wider alle Anschaulichkeit postulierte, dass die Geschwindigkeit des Lichts im leeren Raum endlich ist und immer denselben Wert hat. Unabhängig vom relativen Bewegungszustand zwischen dem Beobachter mit seinem Messgerät und der Lichtquelle. Jeder Gymnasiast, jeder Student wäre bei der Prüfung diskussionslos durchgefallen, wenn er vor dieser Zeit so etwas behauptet hätte. Heute fällt er durch, wenn er es nicht weiss. Ein radikaler, gewaltiger Schlag ins Gesicht des zum damaligen Zeitpunkt herrschenden Naturverständnisses. Das Kreative als Weg zur verbesserten Rationalität. Nicht nur in der Physik. Es ist auch das Notwendende, wenn der Homo Sapiens nicht im Elend seines selbstzerstörerischen Denkens und den damit verbundenen praktischen Folgen untergehen will. Wenn er stattdessen pragmatisch, mit aller Konsequenz, sein Denken der Struktur der Realität unterordnet. Wenn die Lebensmaschinerie und die Wissenschafts- und Ingenieursmaschinerie im Einklang arbeiten. Wenn die Menschen den über 500 Jahre alten Traum Leonardos endlich umsetzen. Wie soll das zu schaffen sein? Mit den unzähligen Erkenntnissen und Technologien, die der Mensch vor allem in den letzten paar hundert Jahren, erdacht erfunden und entwickelt hat. Bis hin zu künstlich gesteuerten Organen und digital assistierten neurologischen Strukturen aller Art, die die Reflexe und das Denken unterstützen. Wenn der Homo Synappsiensis entsteht.
Homo Syntheticus
Eine neue Spezies muss entstehen, soll sich nicht eine Katastrophe wiederholen vergleichbar mit dem Meteoreinschlag vor der Küste Yucatáns vor 66 Millionen Jahren, der 70% alles Lebenden auf der Erde vernichtete. Natürliche Anpassung genügt nicht. Die Zeit reicht nicht. Der Mensch muss die Integration aktiv und mit allen verfügbaren Mitteln selber fördern. Nur so kann er es schaffen, in der Welt zu bleiben. Er muss seine kreativen Kräfte bündeln. Er muss lernen über alles so zu sprechen und denken, dass es der Welt entspricht. Er muss lernen so zu handeln, dass alles was er tut in die unerbittlich bestimmende Welt passt. Er muss lernen, im Einklang mit den Mitmenschen seinen Weg zu finden. Er muss dringend lernen, dass die Welt keine moralischen Kriterien kennt. Sie kennt nur ihren eigenen Gesetzen Entsprechendes. Alles andere hat keine Überlebenschance. Insbesondere Religionen und andere Ideologien aller Art ohne überprüfbaren Realitätsbezug. Sie müssen schnellstens konsequent und unerbittlich durch pragmatische, weltorientierte Denkbewegungen ersetzt werden, wenn der Homo Sapiens nicht spurlos verschwinden soll. In einer Welt, die durchaus und wesentlich auch Kunst, Literatur, Musik, die Freiheit des Denkens und das ungebundene Träumen zulässt. Und so ermöglicht ihre Grenzen auszuloten und immer präziser abzustecken.
Nur wenn der Mensch das versteht und kreativ akzeptiert, hat er eine Chance. Nur noch kurze Zeit als Homo Sapiens, vorübergehend als Homo Synappsiensis und längerfristig als Homo Syntheticus.
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