Vor Kurzem erschien Palavergehorsam. Über Meinungsdirigismus und den Verlust der Wirklichkeit von Gerhard Oberlin. Jennifer Standke, Praktikantin bei K&N, hat dem Autor einige Fragen dazu gestellt.
Was bedeutet der Titel Palavergehorsam genau und warum haben Sie diesen gewählt?
Kadavergehorsam ist ein altes Wort für unbedingten Gehorsam ohne Widerrede und eigene(s) Bedenken. Ich habe das auf die rückgratlosen Meinungsempfänger und Mitläufer übertragen, die etwas für wahr halten, ohne es selbst gründlich zu überprüfen, die also das gerüchteweise Geschwätz anderer (= das Palaver) über die Wahrheit stellen und ungeprüft übernehmen, weil es „irgendwie richtig“ scheint. Wer keine (objektiven, wissenschaftlichen) Ansprüche an die Wahrheit stellt und andere braucht, um sich eine „Meinung“ zu bilden, hat nicht nur ein Autoritätsproblem, er ist auch der geborene „Untertan“, der Opfer von Verschwörungstheorien und faschistischer Machtpropaganda wird. Wir haben in Deutschland ein altes Problem mit dem „autoritären Charakter“ (Erich Fromm), der nach oben buckelt und nach unten tritt. „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch“, dichtete Bertolt Brecht nach der Nazi-Ära zum Thema Faschismus. Wie wahr!
Was ist so gefährlich an Falschinformation oder Meinungsdirigismus und was könnte man unternehmen, um diese Gefahr einzudämmen?
Siehe oben. Aufklärung allein hilft nicht, wie man am Beispiel der Verschwörungstheorien sieht. Argumente brechen die Propaganda nicht, wie man jetzt auch in Russland verfolgen kann (wo der autoritäre Charakter dank Stalin & Co. nie ausstarb). Unmündige Menschen – und das sind alle autoritär geprägten Menschen – sind abhängig im Wortsinn: sie hängen von anderen ab, sind also gerne auch Meinungsparasiten, die denken, was andere denken, weil sie ein gebrochenes Verhältnis zu sich selbst und ein gläubiges, untertäniges zu anderen haben. Vor allem Männer neigen zu diesem Typus, sie haben weniger Mut zur Wahrheit und weniger Rückgrat zum aufrechten Gang. Daher ist Gewalt bei Männern immer zur Hand, weil man so seine Schwäche kompensiert.
Sie beziehen sich häufig auf Erich Fromm. Was hat Sie dazu verleitet, diesen so oft miteinzubeziehen?
Er ist (mit Adorno und Habermas) der Erfinder des autoritären Charakters (s.o.) und erklärt ungeschminkt dessen Affinität zu destruktivem Verhalten. Unbedingt lesen: Die Anatomie der menschlichen Destruktivität. Oder mein neues Buch bei Königshausen & Neumann: Homo sapiens – eine aussterbende Art?
Denken Sie, dass wir durch den Luxus von künstlicher Intelligenz schon in dem von Ihnen erwähnten ,,Schlaraffenland“ leben?
Tendenziell ja, Schlaraffenland steht für den Menschen, dem alles zufällt und der aufgehört hat, sich als selbstwirksam, d.h. kreativ, gestaltend zu erfahren. Er verliert jeden Begriff von sich selbst (d.h. auch seine Glücksfähigkeit), wird sich selbst fremd. Homo sapiens ist zum Jagen, Sammeln, Werkeln, Machen bestimmt. Ohne diese Erfahrung gleicht er den abgestorbenen Individuen in Wall-E (dem Cartoon-Film) oder den Zombies in Huxleys Brave New World. KI macht uns immer unmündiger, dümmer. Manfred Spitzers Prognose der „digitalen Demenz“ wird sich als zutreffend erweisen. Lesenswert: Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen.
Ihr Buch blickt tief in das Wesen des Menschen. Haben Sie beim Schreiben etwas Neues über Sie selbst erfahren?
Ich weiß es schon lange. Nicht Männer sollten die Welt regieren. Ein Überlebender beider Atombombenabwürfe in Japan sagte vor Jahren: Nur stillende Mütter sollten Länder mit atomarer Bewaffnung regieren dürfen. – Lesen sie mein Buch The Day Before the Day After bei Königshausen & Neumann (letzte Kapitel).
Was möchten Sie den Menschen mit Ihrem Buch mitteilen?
Dass sie auf dem besten Weg sind, sich und leider auch alle anderen Spezies auf dem Planeten zu zerstören. Lassen sie sich noch aufhalten?
Mehr Informationen zum Autor und zu seinen bei K&N erschienen Werken finden Sie hier.