»Vor ihm öffnete sich ein unerwarteter Raum und sog ihn in seine Kindheit hinein. Mit diesem aufrichtigen, aber immer entfernten, meist mürrischen Vater, in sich gekehrt, wortkarg und kühl. Der auch den Jungen gegenüber ebenso pflichtbewusst wie unbeholfen war, aber oft abweisend und herabsetzend sein konnte. Und mit dieser Mutter: so bemüht und ungeschickt werbend um ihn und Tobias. Mit ihrem Gesicht, das er nie schön fand, mit ihren schmalen braunen Augen, die er nie mochte, weil er diese Augen auch bei sich selbst entdeckt hatte. Mit ihrer Unsicherheit und all ihrem Kümmern um sie, die Jungens… Doch irgendwo, so wusste er nun, war immer Ulf Gabler.
Draußen wütete der Wind. Man hörte ihn kaum, denn die rauchfarben eloxierten Aluminiumfenster waren immer noch dicht. Aber die Platanen und Büsche wurden hin- und hergerissen, und selbst die Thujahecke erzitterte immer wieder.
Ja, wo ist Mutti?, sagte Gabriel nachdenklich zu seinem Vater, der ihn nun wieder, mit halboffenem Mund und leicht zitterndem Kinn grau ansah. Ein Rest Aufmerksamkeit schien aufzukeimen.
Sie ist in guten Händen!, sagte er zu Vater und er erschrak vor seinen eigenen Worten: In sehr guten Händen, glaube ich…! Seine Stimme verging, und er versuchte, eine Art Schluchzer wegzuschlucken – doch er brachte ihn nicht hinunter.«
(aus: Wo ist Mutti?)
In seinen Erzählungen führt uns Michael Reicherts in Labyrinthe des Liebens und Verlierens, der Sehnsüchte und der Suche nach dem anderen. Wir erfahren von den Überraschungen und der Endlichkeit unserer Begegnungen – und des Lebens. Wir lesen vom Verirren in einer Körperlandschaft, einem Doppelleben in Erinnerungen, vom Kampf eines Jungen an der Seite seines Ameisenvolks, von einer Höhenwanderung in die Vergangenheit, prall von ungelebtem Leben – oder von einer Liebe über den Tod… Die Erzählungen sind wie ein Versuchsraum, in dem emotionale und soziale Extremsituationen erkundet, mögliche Antworten erprobt und in eine sprachliche Gestalt übersetzt werden. Sie sind psychologischer Genauigkeit verpflichtet und ihre emotionale Intensität ist wie eine Operation am offenen Herzen.
Neben zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen als Professor der Psychologie schreibt Michael Reicherts seit einigen Jahren Erzählungen und Kurzromane unter verschiedenen Pseudonymen. Für ihn ist Literatur auch eine Fortsetzung psychologischer Erkundung mit anderen Mitteln. Er lebt in Fribourg/Schweiz und in Berlin.
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