Vor Kurzem ist bei K&N der Band Sappho. Texte zur literarischen Rezeption im deutschsprachigen Raum erschienen. Die Literaturwissenschaftlerin Laura Untner stellt in ihm zusammen, wie sich die Wahrnehmung dieser antiken, teils legendenumwobenen, griechischen Dichterin durch die Jahrhunderte gestaltet und verändert hat.
Ein Interview, das die Österreichische Akademie der Wissenschaften veröffentlicht hat, darf der Verlag freundlicherweise auch hier auf dem Blog präsentieren.
Es gibt wenig gesicherte Informationen zum Werk und Leben von Sappho. Eignet sie sich deshalb so gut als Projektionsfläche?
Laura Untner: Das ist sicher einer der zentralen Punkte, warum sie so viel in der Literaturgeschichte rezipiert wurde und wird. Diese Lücke bietet Raum, um auf einer literarischen Ebene Fragmente von ihr zu vervollständigen oder weiterzuschreiben. Weil sehr unklar ist, wer Sappho überhaupt gewesen ist, wurde sie – auf einer biografischen Ebene – als Vorbild für tugendhafte bürgerliche Frauen ebenso verwendet wie als Beispiel für eine äußerst laszive sexuelle Frau.
Wie viele Texte beschäftigen sich im deutschsprachigen Raum mit ihr?
Untner: 500 waren mir bekannt als das Buch in Druck ging. In den letzten Monaten habe ich auch noch Zeitschriftendatenbanken durchforstet und viele bislang unbekannte Feuilleton-Romane über sie entdeckt. In meinem Buch sind 102 Texte abgedruckt, vom 15. bis zum 21. Jahrhundert, teilweise in Auszügen. Eines der frühesten Rezeptionszeugnisse im deutschsprachigen Raum ist eine Übersetzung von Giovanni Boccaccios De mulieribus claris von Heinrich Steinhöwel, in der Sappho als große Dichterin beschrieben wird. Im 18. Jahrhundert wurde die Autorin Anna Louisa Karsch als „neue Sappho“ berühmt. In der Literaturgeschichte gab es viele schreibende Frauen, die als „moderne Sappho“ oder „deutsche Sappho“ bezeichnet wurden. Karsch ist ein zentrales Beispiel, sie hat rund 120 Gedichte verfasst, die auf Sappho Bezug nehmen. Sie hat sich auch selbst als Sappho inszeniert. Es gibt aber auch zeitgenössische Beispiele: Ann Cotten etwa spinnt das Plejaden-Fragment weiter.
Gibt es Tendenzen, die zeitspezifisch sind in der Rezeption?
Untner: Je nachdem, wie eine Gesellschaft schreibende oder homosexuelle Frauen wahrnimmt, gestaltet sich auch die Rezeption. Es verwundert nicht, dass im 19. Jahrhundert, als Homosexualität gesellschaftlich nicht akzeptiert war, auch Sappho primär als heterosexuelle, tugendhafte Frau dargestellt wird. Ein Beispiel dafür ist Franz Grillparzers Trauerspiel „Sappho“ von 1818. Heute wiederum ist Sappho vor allem im englischsprachigen Raum eine lesbische Ikone, hat fast schon einen Pop-Status. Ich wollte verschiedenste Aspekte der Rezeptionsgeschichte zeigen: Sappho als große Dichterin, als Schul- und Chorleiterin, als Leiterin eines Kultes, als homoerotisch Begehrende.
Gab es Quellen, die Sie überrascht haben?
Untner: Es gibt Texte, in denen die Theorie aufgenommen wird, Sappho sei pädophil gewesen. Sie hätte die jungen Frauen um sich herum sexuell missbraucht. Es gab also keine romantischen Beziehungen, sondern eine Ausbeutungssituation. Spannend ist auch, dass im 21. Jahrhundert so viele Rezeptionszeugnisse wie noch nie entstehen. Das mag auch daran liegen, dass Frauen als Kunstschaffende gerade verstärkt wiederentdeckt werden. Sie wurden lange im Kanon vergessen, die Kunst- und Literaturgeschichte wird gerade revidiert. Sappho ist eine der wenigen, die durch die Jahrhunderte eine zentrale Stellung einnehmen konnte.
Quelle des Interviews:
SAPPHO-REZEPTION: VON DER TUGENDHAFTEN DAME ZUR QUEEREN POP-IKONE