Stephan Grätzel

Verstummen der Natur

Erscheinungsdatum: 01.01.1997, 141 Seiten ISBN: 978-3-8260-1314-0
Fachgebiet:
Autor*innen:Stephan Grätzel

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Beschreibung

Die steigende kulturelle und wissenschaftliche Bedeutung künstlicher Symbole läßt zunehmend die verheerende Vorstellung entstehen, daß nicht nur die formale und mathematische Sprache, sondern Sprache überhaupt ein künstliches System ist. Diese Vorstellung ist nun nicht nur eine Problematik in der Sprachtheorie, sie verändert das gesamte Kommunikationsverhältnis des Menschen mit der Natur. War die Sprache der Natur immer der Ausgangspunkt für die Sprache des Menschen, so hat sich mit der definitorischen Eigenständigkeit der formalen Sprachen dieses Verhältnis geändert. Sprache braucht jetzt nicht mehr hinzuhören auf Natur, braucht nicht mehr sinnlich zu sein und Elemente des Schmeckens, Riechens, Tastens, Sehens und natürlich nicht des Hörens in sich aufzunehmen, sie ist autokratisch geworden. Diese Veränderung beginnt bereits und grundlegend bei dem Verhalten zu dem eigenen Körper, das zunehmend einer Beziehung zu einem Fremdkörper gleicht. Das Resultat daraus ist nun nicht nur eine Veränderung des Bildes von der Natur, sondern der Natur selbst: sie verstummt und zieht sich in den Bereich des Unbewußten zurück. Diese Beobachtung macht nun zunächst die Medizin, vor allem in der Psychiatrie und Psychosomatik. Ausgehend von Freud versteht V. v. Weizsäcker Krankheit als kreativen Vorgang, der sich gegen die zunehmende Stereotypisierung des Lebens wendet. Wie er feststellte, läßt sich der Sinn einer Krankheit deshalb nicht aus dem ableiten, was Tatsache war, sondern aus dem, was nicht Tatsache geworden ist. Das ungelebte Leben zeigt die Differenz auf zwischen dem, was das Leben für einen Anspruch an Verwirklichung stellt und dem, was von diesem Anspruch eingelöst und verwirklicht ist. Dieser Konzeption zufolge gibt es eine Wirklichkeit des Lebens, die sich gegen die Reproduktion wendet. Sie muß aus dem Verstummen heraus gelesen und verstanden werden. Mit Rückgriffen auf den Zeit-, Raum- und Kausalbegriff der Lebensphilosophie und Existenzphilosophie wird das Verstummen der Natur am wachsenden Umgang mit Reproduktionen nachvollzogen. Die Reproduktionen sind zeitlos, weder an einen Ursprung noch an eine eigene Geschichte gebunden. Sie erzeugen die Illusion einer machbaren und beliebig abrufbaren Präsenz. Der Wandel des Zeitverständnisses und Zeitbegriffs ist deshalb nicht nur ein onto­logisches Problem, sondern auch ein physiologisches und lebensweltliches. Die Wirklichkeit technischer Dinge hat einen sachlichen und damit künstlichen Ursprung. Der Anspruch originaler Verwirklichung kann hier nur durch Fetischisierung erfüllt werden, die aber immer Ersatz und ungelebtes Leben bleibt. Die Problematik reproduzierter Welten, wie sie von den genannten philosophischen Ansätzen her aufgezeigt wird, findet also ihre Fortsetzung in der Medizin und allgemein in der Frage nach den Grundlagen der Gesundheit. Der philosophisch-medizinische Dialog, wie er von den Klassikern Binswanger, Jaspers, Straus, Gebsattel, v. Weizsäcker, Buytendijk u.a. begonnen wurde, findet heute in der Theorie der Medizin (Th. v. Uex­küll) seine Fortsetzung. Das geisteswissenschaftlich noch nicht erforschte Problem der Sucht kann dabei in der vorliegenden Arbeit unter dem Aspekt der Verödung der Lebenswelt durch Substitute und Fetische erfaßt werden. Die Ausschöpfung dieser Texte verbindet sich hier mit Anregungen zu weiterer Forschung. Der Autor Stephan Grätzel, z.Zt. Lehrstuhlvertretung in Mainz, promovierte mit einer Arbeit über den englischen Philosophen F. H. Bradley 1979, Habilitation über die „Entdeckung der leiblichen Vernunft in der Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts“ 1988. Als Privatdozent überwiegend interdisziplinäre Tätigkeiten und Veröffentlichungen zur Umwelt- und Lebensweltproblematik. 1993 erschien „Organische Zeit. Zur Einheit von Erinnerung und Vergessen“. Seit 1996 Leiter des Graduiertenkollegs „Theater als Paradigma der Moderne“.

Zusätzliche Information

Gewicht0,28 kg
Größe15.5 × 23.5 cm (B × H)
Seiten141
Erscheinungsdatum01.01.1997
ISBN978-3-8260-1314-0   //   9783826013140
EinbandartKartoniert
SpracheDeutsch
VerlagKönigshausen & Neumann
Verlags-Code05/5108091

Autor*innen

Grätzel, Stephan

Stephan Grätzel ist emeritierte Professor für Philosophie an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz.