Beschreibung
Die spürbare Konfrontation des Menschen mit den Grenzen seines rationalen Zugriffs auf die Welt hat ihren Niederschlag auch in der Pädagogik gefunden. Zwar gilt nach wie vor die rational denkende und handelnde Person als normatives Leitbild unserer Erziehungsbemühungen; doch zunehmend fragwürdig scheint, ob das ra-tionale Denken und Handeln allein als sicherer Grund der Lebensführung und als normativer Bezugspunkt pädagogischer Praxis gelten kann. Können wir menschliche Bildungsprozesse zureichend beschreiben, wenn wir sie nur vom normativen Konzept des rationalen Subjekts her konstruieren, einer Idealisierung des Menschen, die zwar in vieler Hinsicht nützlich ist, ihn aber als Subjekt lebendiger Erfahrung verfehlt? Ausgehend von der Unterscheidung zwischen “organologischen” und “mechanistischen” Deutungen von Vorgängen des Heranwachsens wird im Sinne einer ideengeschichtlichen Rekonstruktion versucht, die Spuren einer ästhesiologischen, Leiblichkeit und Vernunfttätigkeit des Menschen in ihrem Zusammenhang berücksichtigenden, Sicht der Bildung aufzufinden. Die dazu durchgeführte historiographische Analyse einschlägiger Quellentexte aus dem 18. Jahrhundert erstreckt sich von der Kontroverse zwischen Rationalismus und Empirismus zu Beginn des Jahrhunderts über den französischen Sensualismus und Vitalismus sowie den ästhetisch-philosophischen Diskurs in der Jahrhundertmitte bis hin zu ausgewählten Schriften Johann Gottfried Herders ab 1770, insbesondere zur Anthropologie, Ästhetik sowie Geschichts- und Kulturtheorie. Der in dieser Zeit weit entfaltete Diskurs über eine “Bildung der Sinne”, dessen Ertrag im Fortgang der pädagogischen Theoriebildung weitgehend wieder in Vergessenheit geriet, wird in einem ausführlichen Schlußteil der Arbeit auf einige aktuelle Problemstellungen der Bildungstheorie zurückbezogen. Dabei zeigen sich u.a. überraschende Anschlußmöglichkeiten an die Philosophische Anthropologie Plessners und die Historische Anthropologie, die bildungsphilosophische Diskussion um die Autonomie des Subjekts und das soziologische Habitus-Konzept Bourdieus. Zum Autor: Hans Rüdiger Müller, Dr. disc. pol., Jahrgang 1952, lehrt Pädagogik an der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Göttingen. Forschungsschwerpunkte und Veröffentlichungen in den Bereichen Allgemeine Pädagogik, Sozialpädagogik und Ästhetische Bildung. 1996 Habilitation im Fach Pädagogik mit der vorliegenden Arbeit.