Beschreibung
Der Band enthält die Vorträge des Symposiums, das die Stiftung für Romantikforschung im Herbst 1996 in Amsterdam veranstaltet hat. Alle drei Begriffe bestimmen zentral die gegenwärtige Diskussion, und sie haben zugleich eine führende Rolle in der deutschen und europäischen Romantik gespielt. So war die Leitfrage der Vorträge und Diskussionen gedoppelt: Wie ist die Romantik mit diesen Begriffen umgegangen – was heißt Romantisierung? Und wie gehen wir mit diesem (auch problematischen) Erbe um, mit einer Romantisierung, die sich als politische Willenserklärung, ja Tat begreifen läßt? In vier Schritten und über zwanzig Beiträgen wird das Spannungsverhältnis dieser Begriffe untereinander und zu Geschichte und Gegenwart ausgemessen, und zwar von Literatur- und Kulturwissenschaftlern, Juristen, Historikern, Politologen, Dichtern, Diplomaten. Das die Stiftung für Romantikforschung leitende Konzept einer fächerübergreifenden Verständigung zu zentralen Begriffen kommt hier exemplarisch zum Ausdruck. Sowohl kulturrevolutionäre wie restaurative Impulse und Tendenzen charakterisieren das romantische Erbe. Unter dem Thema “Das nicht-völkische Volk” stehen in die Aktualität reichende Analysen und Hinweise zum Widerstand des Konzepts Volk gegen eine stets wieder zugemutete Ästhetisierung/Semiotisierung/Romantisierung: was ist nötig, damit Volk zur Idee, zum Zeichen werden kann? “Das Volk und die Völker” heißt die zweite Abteilung. Kann man von einem europäischen Volk sprechen? Ist Volk ein offenes Konzept, das sich als Aufgabe kultureller Gestaltung fassen läßt? Wie sähe eine Strategie der Entromantisierung kultureller Konzepte aus, welche die Überwindung der Eurozentrik anstrebt, ohne die kulturelle Moderne aufzugeben? Die Beiträge schließen jüdische, islamische, afrikanische, also interkulturelle Sehweisen mit ein, was den pluralen Ansatz der Romantik erprobt, der alles “in Berührung setzen”, aber nicht unbedingt “verschmelzen” wollte. Unter dem Thema “Nation, Volk und Vaterland” wird das Kompromißtheorem einer ,Kulturnation’ problematisiert. Doch zeigt u.a. das Beispiel Afrika, wo romantische Begriffe als Kolonialerbe weiterspuken bzw. ganz anders gedeckt sind, daß so zentralen Konzepten stets und überall eine gesellschaftliche Praxis zugrunde liegt, daß wir nicht kostenlos zu einer Verschiebung unserer Begriffsinhalte, deren ,Entromantisierung’, kommen können. Am Beispiel der Schweiz spitzt sich diese Frage noch einmal zu. Ist Freiheit, der Schweizer Leitbegriff, nur noch plural zu denken, als Strauß von Freiheiten, einem Volk überreicht, das keines mehr ist? Die vierte Abteilung heißt “Europäische Identität” und stellt das Beispiel Österreich in den Mittelpunkt. Kann die Kenntnis des alten Kaiserreichs – Modell einer Einheit von Universellem und Partikularem – als Impfung vor Mißverständnissen und Fehlentscheidungen heute dienen? Wie entkommt man der politischen Instrumentalisierung der Begriffe Volk, Nation, Europa? Sie lassen sich u.a. als “spirituelle Raststätten” fassen, die wieder entdeckt und aufgesucht werden, als konzeptuelle Vereinigung von Verschiedenheit mitsamt einer Preisangabe. Wie können wir den ,Staat’ entmächtigen, solange es noch keinen belastbaren gesamteuropäischen Patriotismus gibt? So führen aktuelle Überlegungen auf die Bedeutung dieser Begriffe um 1790 zurück, auf die Verarbeitung der Französischen Revolution und den Versuch der Romantiker, die Konzepte Volk, Nation, Europa für “je neues Denken” offen zu halten. INHALT Einleitung – W. Haas: Nationale Identitäten: Drei Thesen. Begrüßung – H. Buck: Zum Spannungsfeld der Begriffe Volk – Nation – Europa vor der Romantik – A. v. Bormann: Volk als Idee. Zur Semiotisierung des Volksbegriffs – D. Schefold: Volk als Tatsache, Ideologie und politische Kultur – U. Ricklefs: Geschichte, Volk, Verfassung und das Recht der Gegenwart: Achim von Arnim – P. V. Zima: Einheit und Vielheit. Zwischen Romantik und Moderne – G. Oesterle: Goethe und Diderot: Camouflage und Zynismus. “Rameaus Neffe” als deutsch-französischer Schlüsseltext – B. Tibi: Zehn Gedanken über die Entromantisierung der Begriffe Volk, Nation und Europa. Ethnische Kulturen und Neo-Absolutismus. Zwischen Ethnizität und kultureller Moderne – S. Moses: Das jüdische Volk, Europa und die Völker der Erde. Zu Franz Rosenzweigs Hegel-Kritik – A. Mitzman: Left Populism and Social Romanticism in 19th Century France: the Case of Michelet – J. Leerssen: Nation, Volk und Vaterland zwischen Aufklärung und Romantik – W. Hinderer: Das Kollektivindividuum Nation im deutschen Kontext. Zu seinem Bedeutungswandel im vor- und nachrevolutionären Diskurs – H. Kimmerle: Familie, Volk, Nation aus interkultureller Sicht. Ein spannungsvolles Begriffsdreieck im sozial-politischen Denken – A. Rüegg: Die Schweiz und Europa – B. Sterchi: Röschtigraben. Innen und außen. Helen Schwarz – A. Muschg: Ein Strauß schweizerischer Freiheiten – P. M. Lützeler: Europäische Identität. Der mühsame Weg zur Multikultur – O. M. Maschke: Österreich – entromantisiert – K. Acham: Volk, Nation, Europa – bezogen auf ältere und neuere Formen Österreichs und des Österreichischen – G. Matzner-Holzer: Die Spannung Volk – Nation – Europa am Beispiel Österreichs I – F. Weiss: Die Spannung Volk – Nation – Europa am Beispiel Österreichs II – B. Frischmuth: Österreich – was denn sonst? Der Herausgeber Alexander von Bormann, geb. 1936. Studium der Germanistik, der Philosophie und der klassischen Philologie in Tübingen, Göttingen und Berlin (FU). Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität von Amsterdam. Gastprofessuren in Kiel, Bochum, Aachen, Potsdam, Jerusalem.