Beschreibung
Um die Jahrhundertwende öffnete sich für die Psychoanalyse “der Weg ins Weite, zum Weltinteresse”. Im Verlauf seiner Forschungsarbeit an der Traumdeutung hatte Freud erkannt, daß sich die junge Wissenschaft auch auf Bereiche außerhalb der Psychopathologie anwenden ließ – auf nicht-pathologische, universelle menschliche Phänomene in den Kultur- und Geisteswissenschaften, vor allem auf den Bereich der Literatur. Freud und eine Reihe seiner Schüler waren vom Schaffen der Dichter und Schriftsteller besonders fasziniert. Man sprach von der “Bundesgenossenschaft” zwischen Dichtern und Analytikern, erkannte die Parallelität von Literatur und Psychoanalyse – beide befassen sich mit der individuierenden Rekonstruktion menschlichen Erlebens und Verhaltens unter bestimmten Bedingungen, beide entwerfen Szenarien, in denen Menschen miteinander umgehen – und untersuchte die Schnittbereiche wechselseitiger Beeinflussung. Die vorliegende interdisziplinäre Arbeit zeigt das fruchtbare Spannungsverhältnis zwischen literaturwissenschaftlicher und psychoanalytischer Textdeutung auf und erörtert die Grundzüge des in den siebziger Jahren etablierten eigenständigen Forschungsbereichs der psychoanalytischen Literaturwissenschaft. Vor diesem Hintergrund werden vierundzwanzig psychoanalytisch relevante Interpretationen des Tod in Venedig von Thomas Mann aus dem Zeitraum von 1914 bis 1993 vorgestellt. Sie geben ein lebendiges Spiegelbild der vielfältigen Wandlungen, die die psychoanalytischen Theorien innerhalb der vergangenen achtzig Jahre erfahren haben. Einer kritischen Gesamtschau schließt sich die Skizze einer eigenen psychoanalytischen Interpretation der Venedig-Novelle an. Die Autorin Susanne Widmaier-Haag, Diplom-Psychologin, studierte Germanistik, Anglistik und Psychologie an den Universitäten Tübingen und München. Sie führt eine Praxis als Familientherapeutin und ist daneben in lehrender Funktion an der Universität München tätig. 1997 wurde sie mit der vorliegenden Arbeit promoviert.