Beschreibung
In der deutschen Erinnerungsliteratur an die NS-Zeit dient der Kinderblick als Erzählperspektive, aus der eine Unschuldsposition gewonnen werden kann. Die Betrachtung des Dritten Reiches aus der Kinderperspektive des “Gerade-noch-nicht-schuldig-Gewordenen” spart die Fragen nach dem antisemitischen Alltag und nach der Verstrickung der deutschen Gesellschaft in die Shoah aus. Demgegenüber beschreibt die Erinnerungsliteratur der Opfer die allgegenwärtige Präsenz der nationalsozialistischen “Judenpolitik” im Alltag. Thematisiert wird damit der Geschichts- und Zivilisationsbruch, den der Zeitabschnitt von 1933-45 markiert. Diese Studie wendet sich dem Kinderblick in den Erinnerungstexten von Verfolgten des Nationalsozialismus zu. Anhand dreier Romane – Ilse Aichingers “Die größere Hoffnung”, “Das Waisenhaus” von Hubert Fichte und Danilos Kiš’ “Garten, Asche” – werden Formen der (jüdischen) Erinnerung und Deutung der NS-Zeit dargestellt. Die Kindheit in der Verfolgung und im Versteck ist bei den Betroffenen – alle drei Erzählfiguren sind Kinder eines jüdischen Elternteils – mit Angst, Bedrohung und Verlust verbunden. Verfolgung und Vernichtung stehen im Zentrum ihrer Romane. Diese Studie bietet eine historisch kontextualisierte Lektüre von Erinnerungstexten, eine Analyse der Schreibverfahren auf dem Hintergrund von Literatur- und Gedächtnistheorie sowie eine Situierung der Romane im Diskurs der Nachkriegszeit. Die Autorin Tanja Hetzer studierte Geschichte und Literaturwissenschaft in Zürich und Bielefeld. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Unabhängigen Expertenkommission: Schweiz-Zweiter Weltkrieg. Forschungsschwerpunkte: NS-Geschichte, Nachkriegsgeschichte, Gedächtnis und Erinnerung an die Shoah.