Beschreibung
Während sich in bezug auf das Thema ,Kaspar Hauser’ immer wieder ein von Überzeugungen geleiteter “Terror der Aktualität” (Jean Améry) geltend macht, verabschiedet sich das vorliegende Buch von einem damit einhergehenden kapriziös-verbissenen Inhaltismus und umkreist in aller Ruhe das Kaspar-Hauser-Syndrom als ein strukturelles Phänomen. In einer Zeit, in der Raum und Zeit, die Grunddimensionen der alltäglichen Wirklichkeit, telekommunikativ zunehmend eingezogen werden, Lichtgeschwindigkeit das sanfte Regiment über Denken und Fühlen übernommen hat und diese elementaren Seinsweisen unmerklich auflöst, rücken paradoxerweise auch wieder die körperlichen Grundbedingungen der menschlichen Existenz verstärkt in den Horizont der Wahrnehmung. Die Beiträge greifen die ambulatorische Didaktik der Alten in Griechenland auf: Derzufolge verläuft das körperliche Gehen analog zu den einzelnen Gedankenschritten, fungiert der Speziergang als mnemotechnisches Hilfsmittel und kann das Denken überhaupt sich erst entfalten, wenn es auf seine körperliche Bedingtheit bezogen bleibt. So konzentrieren sich die Studien, die dieser Band präsentiert, auf die durch die Texte bewirkten Affektationen, die auf ihre textuellen Voraussetzungen hin befragt werden. Auf die affektive Verstrickung in die Textwelt wird mit methodisch bewußter Bewußtmachung reagiert. Versprachlichung bedeutet hier: Bewußtwerdung der eigenen individuellen Perzeption, in der nicht nur die eigenen individuellen Wahrnehmungsqualitäten, sondern der je spezifische Text überhaupt erst aufzusuchen sind. Die Autor/inn/en begehen eine Arbeit der Vergegenwärtigung, die auf einen Dialog mit dem Text, mit sich selbst und mit den Leser/inn/en aus ist. Diese Arbeit der Vergegenwärtigung entspricht in besonderer Weise den Autor/inn/en der Beiträge – Student/inn/en der Germanistik. Die studentischen Beiträge erweisen sich im Verhältnis zum professionellen akademischen Diskurs als dessen untergründige, noch weitgehend ungefügte “semiotische Chora” (Julia Kristeva). Als eine solche starten sie einen transformierenden Angriff auf das offizielle, weitgehend festgefügte “Symbolische” (J. Kristeva): Die studentischen Arbeiten bringen sich in die akademische Welt, welche im Licht der in diesem Buch praktizierten Arbeit der Vergegenwärtigung tendenziell als eine ,entrückte’ erscheint, pulverisierend ein. Der Titel des Sammelbandes macht den methodischen Fluchtpunkt der Arbeit sinnfällig, Semiotisches im Symbolischen zur Sprache zur bringen. Die semantisch irritierende Titelfrage konstrastiert mit dem klaren systematischen Untertitel. Aufgrund der Rätselhaftigkeit und als impulsiver Ausdruck einer inneren Verfaßtheit sprengt die ,wurmende’ Frage nicht nur die Grenzen zwischen Bewußtem und Unbewußtem, sondern auch die Textgrenzen der Titelei selbst. Sie drängt zur Suche nach anderen unbekannten Texten, über welche nicht nur Gründe für die ver-rückte Verfaßtheit des sprechenden Subjekts, sondern auch Gründe für seinen Bezug zum Kaspar-Hauser-Syndrom ausfindig gemacht werden können. Über ihre Textauswahl und die Art und Weise ihrer Textanalysen stöbern die studentischen Autor/inn/en das Unbewußte des Kaspar-Hauser-Diskurses auf, wie er sich in mit Kaspar Hauser befaßter Literatur, Forschung und Lehre und entsprechenden filmischen Werken manifestiert. INHALT J. Schlich: Genotexte und Phänotext(e). Tiefgründende Aspekte des Kaspar-Hauser-Syndroms – A. Steinbuch: Kaspar Hauser in der Literatur des 19. Jahrhunderts – B. Stedler: Exkurs(ion) nach Nürnberg und Ansbach (1994) – S. Havekost, A. Heß, Ch. Derr, N. Möller, D. Üstünel, F. von Nell: Jakob Wassermann ,Caspar Hauser oder die Trägheit des Herzens’ (1907/08) – S. Köhnlein, S. Richter: Klaus Mann ,Kaspar-Hauser-Legenden’ (1925) – D. Huf-Rezvani, J. Unger: Maria Mathi ,Kaspar Hauser’ (1927), Walter Höllerer ,Gaspard’ (1955) – Ch. Brombach, U. Rüdenauer: Meret Oppenheim ,Kaspar Hauser oder die Goldene Freiheit’ (1942) – A. Mead: Peter Handke ,Kaspar’ (1967/68) – S. Knapp: Briefwechsel mit Katja Lange-Müller (1995) – S. Siegler, B. Stedler, J. Wernz: Katja Lange-Müller ,Kaspar Hauser – die Feigheit vorm Freund’ (1988) – A. Steinbuch: (Ex)kursgespräch mit André Eisermann – K. Bollinger, A. Steinbuch: Werner Herzog ,Jeder für sich und Gott gegen alle’ (1974), P. Sehr ,Kaspar Hauser’ (1994) Die Herausgeberin Jutta Schlich ist Wissenschaftliche Assistentin am Germanistisches Seminar der Universität Heidelberg. Publikationen über Elfriede Jelinek, Heiner Müller, Literatur und Erlebnispädagogik, Begriffsgeschichten, semiotische Textanalyse