Beschreibung
Ausgangspunkt ist der menschliche Körper in seiner Vermittlerrolle auf der Grenze der Diskurse: hybrider Ort der Vermischung, metaphorische Brücke zwischen heterogenen Wissensbereichen, Feld, auf dem sich Medizin und Politik begegnen und gegenseitig durchdringen. Es geht dabei um einen doppelten, reziproken Metaphorisierungsprozeß. Soziale Funktionen entsprechen bestimmten Organen. Physiologische Vorgänge spiegeln soziale Prozesse. Was dem kollektiven Sozialkörper verschrieben wird, soll am individuellen Leib nachvollzogen werden. Therapeutische Eingriffe auf den kranken Körper verdoppeln sich in politischen Interventionen auf den Gesellschaftsleib. Für den Verlauf der Untersuchung hat dies zur Folge, daß die zwei divergierenden und doch immer wieder konvergierenden Forschungsrichtungen der Geschichte des Körpers und der historisch orientierten Metapherntheorie auf ihre Überschneidungen und Verwandtschaften hin untersucht werden. Soziologisch orientierte Arbeiten über die historischen Erscheinungsformen des Körpers treffen auf Untersuchungen zur Geschichte der Metapher. Anstelle einer kumulativen und diachronisch ausgerichteten Vorgehensweise, wie man sie von Übersichtsarbeiten her gewohnt ist, wurde einem selektiven und formalen Kriterium der Vorzug gegeben. Einzelne ausgewählte Metaphern wurden nach den unterschiedlichen Facetten ihrer historischen Herkunft und ihrer formalen wie inhaltlichen Gegenwart befragt. Auch die Gesamtgestaltung der Arbeit richtet sich nach diesem Prinzip. Das soziale System wird auf drei spezifische, aufeinander bezogene formale Aspekte hin befragt: von den Metaphern der Ganzheit und des inneren hierarchischen Gefälles, über verschiedene Formen der zeitlichen und räumlichen (Ent)Grenzung, zur Ausscheidung bedrohlich destabilisierender Elemente. INHALT I. Gesellschaftskörper: Metaphern der Ganzheit – Der Körper des Königs: Soziogene als Zerstückelung eines mythischen Urwesens – Das Feste und das Fließende: Körpersäfte und Organe bei Alkmaion, Hippokrates, Platon, Aristoteles und Galen – Kopf oder Herz: kirchliche und weltliche Machtansprüche im späten Mittelalter – Corpi misti: die Ableitung der Staatsverfassung aus der Temperamentenlehre – Kreisläufe: Harveys Zirkulationsmetapher und dessen Folgen II. Grenze: Metaphern des Übergangs – Interregnum: soziale Auflösung als Zerfall des Körpers des Königs – Hybride Schwellenexistenzen: der Körper als Metapher gesellschaftlicher Grenzzustände bei V. Turner und M. Bachtin – Osmotische Grenzen: Karneval und Ketzerei, grotesker Körper und der Leib spätmittelalterlicher Heiligen – Die Wächter des Mundes: Arzt und Beichtvater, der Mund als umkämpfter, liminaler Bereich – Bedrohte Grenzen: zum Verhältnis von inneren und äußeren Grenzen III. Ausscheiden: Metaphern des Absonderns – Zur Affinität von Ausscheidungen und Randgruppen: körperliche Abfallprodukte und soziale Außenseiter – Parasiten des Sozialkörpers: Bettler und Vagabunden in der frühen Neuzeit – Periphere Ablagerungen: Leprakranke, Juden und Pestkranke – Die soziale Physiologie der Ausscheidung. Kanalisationen und Prostituierte, Kot und Sperma – Zur symbolischen Zirkulation des Abartigen: über eine diskursive Strategie der Neuzeit Der Autor Rainer Guldin studierte Anglistik und Germanistik in Zürich und Birmingham und promovierte mit einer Arbeit über Hubert Fichte. Seit 1996 arbeitet er als Deutschlektor an der Fakultät für Kommunikationswissenschaften der Universität von Lugano in der Schweiz.