Beschreibung
“Naturlyrik” ist ein Begriff, der in der Literaturwissenschaft zwar häufig verwendet wird, sich bei näherem Hinsehen aber als wenig aussagekräftig entpuppt. Er hat, bislang jedenfalls, keine Konsequenzen für die Interpretation des einzelnen Gedichts, denn er besagt kaum mehr, als daß es Gedichte gibt, die sich irgendwie auf Natur beziehen. Die vorliegende Studie möchte jedoch plausibel machen, daß die moderne Lyrik eine Entwicklung vollzieht, in deren Verlauf sie zu einem sehr konkreten Verständnis der Gattung “modernes Naturgedicht” gelangt – ein Verständnis, das den Bezug der Lyrik auf Natur nicht voraussetzt, sondern in Frage stellt. Die moderne Naturlyrik ist, so die These, eine Gattung, die am Beispiel der Natur das (bereits in Hofmannsthals ,Chandosbrief’ diskutierte) Problem zu lösen versucht, ob und wie Sprache sich auf Realität bezieht. Damit sind eine ganze Reihe weiterer Fragen verbunden, Fragen wie: Wenn Sprache sich auf Realität beziehen soll, was bedeutet dann “Sprache”, was “Realität”? Wie kann Natur nicht etwa durch technische, sondern durch sprachliche Versuchsanordnungen erkannt werden? Inwiefern ist Natur etwas Künstliches und das Gedicht etwas Natürliches? Unter welchen Umständen führt eine poetische Erkenntnis der Natur zu einer Selbsterkenntnis der Poesie? Es zeigt sich, daß die moderne Naturlyrik versucht, all diese Fragen zu beantworten, indem sie auf das (scheinbar antiquierte) poetologische Konzept der Naturnachahmung zurückgreift und dabei drei prinzipielle Lösungsmöglichkeiten des Sprach- oder Realitätsproblems entwickelt. Indem sie sich mit den lyrischen und poetologischen Texten Oskar Loerkes, Günter Eichs und Rolf Dieter Brinkmanns auseinandersetzt, vollzieht die Studie diese drei Wege aus der Sprachkrise, in die die Dichtung zu Beginn des Jahrhunderts geraten war, nach. Dieser Nachvollzug offenbart eine aus poetisch-poetologischen Positionen bestehende Konstellation, die zum einen die Entwicklung der Naturlyrik im 20. Jahrhundert, zum andern aber auch den Gattungsbegriff “modernes Naturgedicht” bestimmt – soll heißen: Ein Teil der modernen Lyrik erzählt die eigene Genese als Gattungsgeschichte. Doch, da diese Geschichte wissenschaftlich nachzuerzählen heißt, sie in eine Theorie des Naturgedichts zu übersetzen, müssen poetisches und wissenschaftliches Beobachten miteinander verflochten, theoretische Abstraktion und detailgenaue Textinterpretation verbunden werden. Diese Verbindung wird zum einen durch die Darstellung einer Methode gewährleistet, die jeder einzelnen literaturwissenschaftlichen Theorie vorausgeht, und zum andern durch eine an Hegels Begriff des Begriffs orientierte Konzeption der poetischen Gattung. Der Autor Studium der Germanistik, Philosophie und Soziologie an der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg. Promotion an der Universität Mannheim; Publikationen zu Fragen der Literaturtheorie. Zur Zeit Dozententätigkeit und Arbeit an einer übersetzungstheoretischen Grundlegung der Literaturwissenschaft.