Beschreibung
Viele Texte hat der große Magen des Vergessens längst verdaut, andere geistern seit Jahrhunderten als Literatur durch die Geschichte. Warum? Dieser Frage versucht der vorliegende Band in einem interdisziplinären Ansatz nachzuspüren. Es geht um eine theoretische Grundlegung des literarischen Wandels, die unter Einbeziehung literaturästhetischer, leser- und sozialpsychologischer, neurobiologischer, ökonomischer und chaostheoretischer Modellierungen eine Vermittlung zwischen individueller Wertsetzung und gesellschaftlicher Wertbildung in aestheticis anstrebt. Ausgehend von den einschlägigen Schriften Pierre Bourdieus und der Kritik an seinen materialistischen Verkürzungen des Problems wird gezeigt, daß Festsetzungen im Sinne ästhetischer Kanonbildung nicht nur von einer Art spielerischer Kontingenz bestimmt sind, sondern im individuellen Akt der Text- beziehungsweise Werkrezeption ständig verschoben werden, so daß die Kanonisierung literarischer Werte in the long run als ein offener dynamischer Prozess in Erscheinung tritt. Die literarische Wertbildung ist modelliert als ein Effekt der sozialen Kommunikation, als das nichtintendierte Ergebnis des Handelns aller am literarischen Diskurs Beteiligter. Mit der Definition des “literarischen Erkenntnisraums” als einer kreativen Instanz permanenter De- und Rekonstruktion von Urteilsbildungen im Prozess der von Fall zu Fall sich verändernden kognitiven Klassifikationsmuster sucht die Untersuchung nach einer Erklärungsbasis, nach der sowohl normative als auch innovative Bedeutungsbildungen in ein rekursives und zugleich fluktuierendes Verhältnis zu bringen sind. Die Vermittlungen (“Feedbacks”) in den Urteilshandlungen der literarischen Kommunikationsteilnehmer, die auf gesellschaftliche Komponenten verweisen, untersucht die Arbeit nach einem bewußten Blickwechsel vom Individuellen auf das Allgemeine unter dem Begriff des “literarischen Wertens”. Der Blickwechsel springt hier von der Einzelerfahrung zum Gruppenstandard, ohne jedoch die Wechselwirkung zwischen Individuellem und Allgemeinem preis zugeben. Die individuelle Selbsteinschätzung ist eine Funktion der öffentlichen Erwartung je nachdem, welche gesellschaftliche Bühne zur Analyse ansteht: die Medien der Massenkommunikation, der sogenannte Künstlerzirkel oder das wissenschaftliche Podium des Expertengesprächs. Auf der Ebene des Allgemeinen entscheidend ist das Kriterium des sozialen Erfolgs, das in verschiedenen Systemzusammenhängen je anders zu Buche schlägt und entweder zu homogenen, oder zu konkurrierenden Relationen zwischen Wertungs- und Urteilshandlungen führen kann. Die daraus resultierenden langfristigen Veränderungen schlagen sich in einem nicht-intentionalen und gerade nicht individuell zuschreibbaren Wandel der Schemata, Muster und Standards nieder, die zum Arsenal der literarischen Kritik gehören. Entscheidend ist die Hauptthese: Die Veränderungen im “literarischen System” sind unter den “normalen” Bedingungen eines offenen sozialen Systems niemals prognostizierbar, da sie nach jener dialektischen, zwischen Besonderem und Allgemeinem vermittelnden Logik zu begreifen sind, die einer allgemeinen Theorie sozialen Handelns zu Grunde liegt. Mit einem Wort: Die Macher von Literatur sind wir alle. Der Autor Christian Gruber, Jahrgang 1965, studierte Germanistik und Politische Wissenschaft. 1999 promovierte er in Heidelberg mit der vorliegenden Arbeit. Gruber arbeitete jahrelang als Kunstkritiker, unter anderem für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, und ist Zeitungsredakteur.