Beschreibung
Die Frage nach Erinnerung, Gedächtnis oder Eingedenken ist eine der ältesten Denkfiguren der Kulturgeschichte. Angesichts der Vielfalt und Unüberschaubarkeit von suggeriertem Gegenwarts- und Zukunftsbewußtsein rückt sie seit den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts erneut virulent vor Augen. Nicht nur in den Wissenschaften, sondern auch im öffentlichen Diskurs, in den Medien und den Köpfen der Nation wird dieser Thematik große Bedeutung zugeschrieben. Der Band vereint Beiträge, die sich unter kulturgeschichtlicher Perspektive den sogenannten “Topographien der Erinnerung” widmen. Sie beschreiben Wege und Denkfiguren des Kulturtransfers. Dabei werden in einem diachronen und interdisziplinären Rahmen Funktionen und Formen einer Erinnerungskultur durchschritten, die sich von den Geschichtswissenschaften über die Kunstgeschichte zur Philosophie und den Literaturwissenschaften erstrecken. Die Beiträge sind von einer gemeinsamen Fragestellung geleitet: Es ist die Frage nach den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Leistung des Mythos. Der Mythos als Darstellungsform und die Arbeit an und mit ihm zeigen bekanntlich immer schon Modelle der Wirklichkeitsformung und -bewältigung auf. Die Funktion des Mythos liegt darin, als Bewahrungsinstanz Erfahrung in Erinnerung zu transformieren. Solche Transformationsprozesse werden hier zunächst mit einer Rückschau auf die Antike und deren Rezeption in der Medizingeschichte, der Kunstgeschichte, der russischen Geschichte und der deutschen Philologie verfolgt. In einem zweiten Schritt zeigen Einzelstudien aus den Literaturwissenschaften eine “Arbeit am Mythos” mit einer europäischen und außereuropäischen Erinnerung auf. Abschließend rückt durch vier Beiträge neben der benannten Produktivität des Mythos seine Ambivalenz und Gefahr in den Vordergrund. Zusammenfassend tritt damit einerseits der Mythos als “Ort” von Kultur und als Funktion für den Menschen vor Augen, sich und seine Umwelt dort zu begreifen, wo ihm Fremdes begegnet. Andererseits zeigen Fälle der Vereinnahmung und Ideologisierung von Mythen das paradoxe Handlungsmuster auf, gerade die Leistung des Mythos – die Möglichkeit des Umgangs mit dem Fremden – zu pervertieren. Dazu gehört allererst der Umgang mit dem Jüdischen in der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Aus dem Inhalt: Antike Mythen und deren Rezeption Florian Steger: Erinnern an Asklepios. Lektüre eines gegenwärtigen Mythos aus der antiken Medizin – Brigitte Sölch: Momente des Erinnerns: Funktion und Bedeutung archäologischer Zeugnisse in den Werken Francesco Bianchinis (1662-1729) Historische Mythen Benjamin Schenk: “Neue Mythen” und kollektive Identität. Konzeptionelle Überlegungen zum Alexander-Nevskij-Mythos – Stefan Metzger: Überlegungen zur Rhetorik der “Neuen Mythologie” Außereuropäische Mythen Susanne Gehrmann: “Jeanne d’ Arc” in Afrika. Literarische Entwürfe mythischer Frauenfiguren – Anne-Julia Zwierlein: “A world without monuments”: Erinnerung, Erfindung und mythisches Erleben in Derek Walcotts Epos “Omeros” (1990) Europäische Mythen Thomas Stöber: Die Ostentation des Todes. Epistemologisches Apriori und kulturelles Gedächtnis in Todesrepräsentationen des 19. Jahrhunderts – Bernd Blaschke: Motive und Medien des Erinnerns in Joyces “Ulysses”. Von der Mythenrezeption zur Mythenproduktion – Andreas Degen: “Ich kenne einen Friedhof.” Temporale Koinzidenz als Leistung mythischer Formen bei Johannes Bobrowski Politische Mythen Dirk Lüddecke: Orest muß nicht sterben. Gedanken über Politik und Mythos ausgehend von Aischylos und Ernst Cassirer – Günter Sautter: Ideenevolution aus Erinnerung. Zu Enzensbergers “Aussichten auf den Bürgerkrieg” Das Jüdische und der Mythos Axel Schmitt: “Einschluß einer Vergangenheit in die Textur der Schrift …” Tradition, Erinnerung, Erzählung bei Benjamin und Scholem – Bettina von Jagow: Mythische Denkmuster in der Nachzeit der Shoah. Erinnerung zwischen Fiktion und Wahrheit in Imre Kertész “Roman eines Schicksallosen” und Roberto Benignis Film “La vita è bella” Die Herausgeberin Bettina von Jagow studierte in München und Paris Germanistik, Französisch und Theaterwissenschaft. Seit 1999 arbeitet sie als Promotionsstipendiatin der Studienstiftung des deutschen Volkes an einer Dissertation im Bereich der Neueren deutschen Literaturwissenschaft. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten gehören die deutsche und französische Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts als auch die literaturtheoretischen Gebiete der Mythosanalyse, des Poststrukturalismus und der Dekonstruktion sowie der “gender”-Forschung.