Beschreibung
Die vorliegende Arbeit will nachweisen, daß die deutschsprachige Literatur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts maßgebliche Entwicklungen einem homosexuellen Diskurs verdankt, in dem Schriftsteller sowie Geistes- und Sozialwissenschaftler ihre homoerotische Disposition, ihr Außenseiterdasein in einer heterosexuell ausgerichteten Umwelt und ihr Leiden an der eigenen geschlechtlichen Neigung, literarisch voreinander darstellen, nach außen aber verbergen. Ernst Bertrams Nietzsche-Buch thematisiert an zentralen Stellen Leidempfinden sowie Hoffnungen und Sozialisationsvorstellungen eines Homosexuellen. Bertram stilisierte Nietzsche als Homosexuellen und bediente sich wichtiger Philosopheme Nietzsches im Sinne seiner Lebensproblematik. Dabei verweist sein Buch nicht nur auf ihn selbst, sondern auf die Nietzsche-Rezeption im homosexuellen Diskurs, auf Stefan Georges und Kurt Hildebrandts Nietzsche-Bild, auf Thomas Manns Nietzsche-Rezeption, vor allem auf den Doktor Faustus. Es macht auf eine homosexuelle Literaturtradition aufmerksam, auf homosexuelle Wahrnehmungsperspektiven, auf Motive und Leitbilder, die im homosexuellen Diskurs zirkulierten, sowie auf damit sich verbindende Lebensvorstellungen. Untersucht wird der Einfluß der freundschaftlichen homoerotischen Beziehungen auf die schöpferische Arbeit. Die in Bertrams Nietzsche-Buch enthaltenen Implikationen sind nur im Spiegel einer für ihn tragisch verlaufenden Freundschaft zu verstehen. Die Arbeit geht auf die homoerotische Latenz der Beziehung zwischen Bertram und Stefan George ein. Das Verhältnis zwischen Thomas Mann und Stefan George verweist auf die im Werk beider zum Ausdruck kommende evident homosexuelle Motivpolarität. Die Arbeit beschreibt kein marginales Phänomen, sondern einen literaturhistorisch bedeutenden und einflußreichen Ausschnitt der literarischen Kommunikation der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts. Sie weist nach, daß Homosexualität eines der zentralen literarischen Themen in dieser Zeit war, daß renommierte Autoren wie George, Thomas Mann, Hofmannsthal, Bertram u.a. ihr spezifisch homoerotisches Empfinden zu einem wichtigen Gegenstand ihrer Kunst machten und daß Homosexuelle mit ihren Problemen aufeinander Bezug nahmen. Der Autor Jan Steinhaußen studierte Literaturwissenschaft und Philosophie. Er legte das erste und zweite Staatsexamen in den Fächern Deutsch, Geschichte und Ethik ab und promovierte 1998 in Halle.