Beschreibung
Das Kind in Rilkes Texten ist eine Randfigur. Neben Gestalten wie Orpheus, dem Engel oder auch nur der Rose spielt das Kind eine untergeordnete Rolle. Das spärliche Vorkommen des Themas “Kindheit” in den Briefen und Gedichten dokumentiert Rilkes besondere Haltung gegenüber seiner eigenen Kindheit. Er möchte sie nicht, wie andere sekundärliterarische Texte behaupten, aufarbeiten oder gar mittels der Dichtung bewältigen. Im Gegenteil: Rilke unternimmt die fortgesetzte, auch eingestandene, ja sogar planmäßig betriebene Verleugnung und Verdrängung seiner Kindheitserfahrungen. Indem er die Kindheit bewußt im Unbewußten beläßt, versucht er, ihr dichterisches Potential zu bewahren. Rilke stellt die Kindheit in den Dienst der Dichtung und räumt ihr in seinen Essays zur Dichtungstheorie eine zentrale Stelle ein. Die vorliegende Studie folgt dieser Bewegung. Sie fragt nach der Kindheit im Hinblick auf Rilkes Dichtung. Nicht was Rilkes Texte über Kindheit erzählen, sondern was sie über die Beziehung der Kindheit zur Dichtung erzählen, steht zur Diskussion. Geforscht wird nach der Kindheit in einer poetologischen Dimension: nach einer Poetik der Kindheit bei Rilke. Die Autorin Ruth Hermann, geboren 1964, studierte Psychologie, Kinderpsychopathologie und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Zürich, wo sie 1999 mit der vorliegenden Arbeit promovierte. Sie arbeitet als Psychotherapeutin für Kinder und Jugendliche in Zürich und lebt in Paris.