Beschreibung
Der Zeitraum von 1890 bis 1910 wird gemeinhin als Gründungsphase der literarischen Moderne bezeichnet. In ihm ereignet sich ein Wandel grundlegender anthropologischer Vorstellungen: Die semantische Aufladung des Körpers bildet das Gegenstück zu einer als krisenhaft erfahrenen Skepsis gegenüber den Leistungen der Vernunft und der Sprache. Den Ursprung dieses Paradigmenwechsels der literarischen Anthropologie bildet der “revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts”, den Karl Löwith im Übergang von Hegel zu Nietzsche konstatiert hat. Die Darstellung dieses Prozesses, der von der Vergöttlichung des absoluten Geistes in der Nachfolge Hegels bis zum Kult des Körpers und der ihm innewohnenden vitalen Kräfte führt, bildet den ersten Teil dieser Arbeit. Im zweiten Teil wird – als eine innerhalb der literarischen Moderne prominente Position – das Frühwerk Thomas Manns als ein Antwortversuch auf die Herausforderungen der anthropologischen “Achsendrehung” (Simmel) des 19. Jahrhunderts dargestellt. Hier wird gezeigt, wie Mann in seinem Werk bis zum ersten Weltkrieg das eigene anthropologische Selbstverständnis von der Suprematie des Geistigen verteidigt gegen die Privilegierung des Körperlichen, wie sie die Literatur seit 1890 im Anschluß an Nietzsche vornimmt. Darüber hinaus wird dargestellt, wie Thomas Mann, indem er über das Verhältnis von Leiblichkeit und Ästhetik intensiver zu reflektieren beginnt, sich nach 1903 allmählich diesen Paradigmenwechsel zu eigen zu machen versucht und wie er seit 1912 eine “neue Anthropologie” als Versöhnung von Körper und Geist artikuliert und die Kunst als den Ort dieser Versöhnung bestimmt. Der Autor Stefan Pegatzky studierte Germanistik und Philosophie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Von 1994 bis 1999 war er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am dortigen Institut für Deutsche Sprache und Literatur I beschäftigt. Seit 2000 ist er Lektor des Henschel Verlages in Berlin.