Beschreibung
In einer Zeit schreibend, in der das Interesse an Legenden und Volkserzählungen in gebildeten und ungebildeten Schichten gleichermaßen wieder erwachte, schuf Benedikte Naubert eine erhebliche Anzahl von Sagen, Legenden und Märchen. Sie verarbeite den Korpus des mittelalterlichen Stoffes auf eine ihr eigentümliche Art und Weise: Höchstwahrscheinlich konsultierte sie eher verstaubte Bände als irgendein altes Mütterchen der Gegend. Weiterhin vermischte sie Material aus verschiedenen Gattungs- und Nationaltraditionen nach Belieben. Obwohl sie daher keineswegs eine Volkskundlerin avant la lettre darstellt, verwendet sie die alten Erzählungen nicht gekünstelt und manieristisch; eine Tendenz, die etwa bei ihren Zeitgenossen Wieland und Musäus zum Vorschein kommt. Nauberts erste Sammlung von Erzählungen, die Neuen Volksmärchen der Deutschen, erschien 1789-1792. Die vorliegende Studie stellt die erste vollständige Beschreibung und Deutung dieser heute nahezu vergessenen Geschichten dar. Für die Literaturwissenschaft allgemein, sowie für die Märchenforschung liefert sie wichtige Ergebnisse. Z. B. entspricht Nauberts Erzählerstimme nicht immer den Erwartungen des Nach-Grimm’schen und nachromantischen Lesers: So treten etwa Heldinnen mit ausgeprägter Neugier auf (was Märchenheldinnen sonst verboten ist) und die männlichen Helden entdecken meistens, daß das Heldentum eigentlich nur ein eine hohle Blase ist. Naubert beschäftigt sich mit so verschiedenen Themen wie dem individuellen Bedürfnis nach Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung, der Machtausübung und dem Machtmißbrauch, und wie man alten Traditionen treu bleiben und dennoch der Zukunft entgegentreten kann. Die Feder dieser Autorin verleiht den alten Geschichten eine neue Gestalt: Das Gleichgewicht zwischen männlichen und weiblichen Erzählen wird neu gewichtet und der Ausgang der Geschichten weist strukturelle Änderungen auf, durch welche die Bedeutung des Althergebrachten auf den Kopf gestellt wird. Die Autorin Laura Martin ist seit 1995 als Dozentin für Germanistik und Komparatistik an der University of Glasgow tätig.