Beschreibung
Der Band versammelt die Beiträge zu einem deutsch- polnischen Kolloquium, das im Oktober 2006 in Warschau stattgefunden hat. Er ist einem geschichtlich kulturellen Raum gewidmet, der das östliche Europa umschließt und sich von da aus in den asiatischen Teil der Welt hinein öffnet. Einer alten Fixierung auf den Süden und den Westen, aber auch auf den Nahen und den Fernen Osten folgend hat man ihm insgesamt nur sporadisch und punktuell seine Aufmerksamkeit geschenkt, im Widerspruch zu der Kontinuierlichkeit und Beharrlichkeit, mit der er seit langem, in gesteigertem Maße aber seit dem 18. Jahrhundert seinen Platz und seinen Rang in der deutschen Literatur selber behauptet hat. Im 18. Jahrhundert, genauer gesagt am Beginn der Goethe-Zeit liegt daher auch der literaturgeschichtliche Einsatzpunkt des Bandes. Von da aus wird ein Bogen bis zum Ende des 20. Jahrhunderts geschlagen. Was die Erfassung dieses Gegenstandes betrifft, so ist die Frage nach den spezifischen Vorstellungen, die man sich von ihm in wechselnden historischen Zusammenhängen gemacht hat, naturgemäß nicht abtrennbar von der nach dem jeweiligen Vorverständnis der eigenen nationalen und europäischen Identität und ihrer raumzeitlichen Koordinaten sowie nach der darin implizierten Definition des Verhältnisses von Zentrum und Peripherie, nicht zuletzt aber auch von Innen und Außen. Das bedeutet wiederum, dass man es hier zuallererst mit dem Problem der Stereotypie samt den zugehörigen Raum-, Orientierungs-, Bewegungs- und Handlungsschemata tun hat. Es macht jedoch die Spezifität des literarischen Bildes aus, dass mit der Verfestigung und Automatisierung zugleich ein Prozess der Entautomatisierung und Entgrenzung in Gang gesetzt wird und zwar vermöge seiner konstitutiven Selbstbezüglichkeit, welche seine Darbietung unauflösbar mit der immanenten poetologischen Reflexion auf seine Genese, seine mediale Struktur und seine Funktion verknüpft sein lässt. Es ist die Konzentration auf diesen Grundzusammenhang, die dem hier präsentierten Forschungsprojekt sein Profil und seinen inneren Zusammenhalt gibt. Er wird theoretisch abbildbar und erschließbar, indem man Modelle der Stereotypie, der Topographie und des kulturellen Transfers mit Poetiken des Bildes und des Raums konfrontiert. Das bedeutet aber, dass mit der literaturgeschichtlichen Thematik des Ostens zugleich grundlegende literaturtheoretische und kulturwissenschaftliche Konzepte, ihr Wechselverhältnis und ihre Perspektiven zur Diskussion stehen. K. Sauerland: Vom Osten kommt das Glück, vom Osten kommt die Gewalt – B. Cho³uj: Wie der Osten immer ferner wird – H.-G. Winter: J.M.R. Lenz: Empfindsame Gemeinschaften und ihre gewaltsame Störung. Stilisierte Sozialerfahrungen des Autors in Livland und ihre Auswirkungen auf sein Schreibkonzept – B. Hamacher: „Fremde Kleider, fremde Sitte, Wohlgekanntes Herz.“ Goethes Bild von Ost-Europa – P. Brandes: „Ermordetes Polen“. Personifikationen des Ostens bei Heine – C. Pareigis: „Mein westöstlicher dunkler Spleen“. Zwischen zwei Sprachen: Heines Hebräische Melodien auf Jiddisch – G. Kwieci´nska: Eine Reise nach Galizien mit Karl Emil Franzos – U. Wergin: Großer Stil und große Politik. Der Rußland-Komplex und die Figuration des Ostens in Nietzsches politischer Ästhetik – M. Tokarzewska: Ein Bild des ‚wilden Ostens‘: vier Sibirienberichte aus der Zeit um 1900 – B. Surowska: Rilkes Bemühungen um die Verbreitung der russischen Literatur und Kunst in Deutschland – U. Kinzel: Botschaft und Wegweisung. Die hermetische Transformation in Thomas Manns Der Tod in Venedig – M. Schuller: Ost-West-Pasagen: Sabina Spielrein – A. Wo³kowicz: „Aufopferung der Seele“ und der „kategorische Imperativ mit dem Revolver in der Hand“: die „russische Ethik“ bei dem frühen Lukács und Bloch – D. Eschkötter: „Postkarte aus Moskau“. Spuren eines „geopolitischen Ereignisses“ bei Walter Benjamin und Derrida – F. Trapp: Galizien als multiethnischer Lebensraum – das Zusammenleben von Juden, Polen und Ukrainern in Soma Morgensterns Funken im Abgrund – T. Ogrzal: „Es geht um den Herantransport der Horizonte“. Der Schauplatz „Ostkrieg“ in Alexander Kluges Heidegger auf der Krim Die Herausgeber Ulrich Wergin lehrt Neuere deutsche Literatur an der Universität Hamburg. Karol Sauerland lehrt Philosophie und Deutsche Literatur an den Universitäten Warschau und Thorn.