Beschreibung
,Lenz‘ beschäftigt hier nicht als ‚Fall‘-Autopsie, wie auch die Figur Lenz nicht in erster Linie als Kranker interessiert, sondern als Subjekttypus: als Beispiel leidender, erlittener Subjektivität. In der trostlosen Einsamkeit der Lenzfi gur ist der Appell spürbar, der „Krankheit der Freiheit und Verantwortlichkeit“ (Ehrenberg) mit einer anderen, nicht-anthropozentrischen, einer anthropologischen Vernunft, mindestens aber mit Gemeinsinn zu begegnen. Lenz ist kein ‚Unvernünftiger‘, sondern ein Opfer der dezentralen Vernunft, die für den Einzelnen einen viel zu großen geistigen Freiheitsrahmen schafft, den er nicht ausfüllen kann. Mit ihm als Typus betritt eine Gesellschaft die Weltbühne, die den Wahnsinnigen, den Depressiven, den Melancholiker so systematisch erzeugt, wie sie diesem Produkt ratlos, ja militant, zuweilen sadistisch gegenübersteht. Aus Büchners Projektion der Moderne erwächst die Nachfrage nach einer erzählerisch gesicherten Welteinbettung, während sich in der Figur des Schriftstellers (J. M. R. Lenz), der nicht mehr schreibt, gleichzeitig die Kapitulation vor den Aufgaben einer ‚mythopoetisch‘ betrauten Literatur ereignet.
Der Autor Der Autor Dr. Gerhard Oberlin arbeitet als Freier Literatur- und Kulturwissenschaftler mit Wohnsitz in Tübingen. U.a. Dozent für deutsche Sprache und Literatur an der Beijing Foreign Studies University und am Deutsch-Chinesischen Institut der University of Business and Economics, Beijing/China. Zuletzt Gastdozent der Hebrew University in Jerusalem. Jüngste Buchpublikationen: ,Goethe, Schiller und das Unbewusste‘ (2007), ,Modernität und Bewusstsein. Die letzten Erzählungen Heinrich von Kleists‘ (2007), ,Die letzten Mythen. Untersuchungen zum Werk Franz Kafkas‘ (2011), ,Der Wahnsinn der Vernunft. Georg Büchners “Lenz”. Die Krise des Subjekts in der Moderne‘ (2014), ,Delphi – das Orakel. Zentrum der antiken Welt‘ (2015), ,Warum? – Amokflug 4U 9525‘ (2015).