Beschreibung
Weltsichten sind menschliche Kommunikationsund Erkenntnissysteme, die zuerst in Übergangszeiten vom dominant ‚magisch-mythischen’ zum dominant ‚rationalen‘ Bewußtsein konzipiert wurden. Sie helfen Individuen und Kollektiven dabei, einander zu verstehen und sich in ihren ‚Lebenswelten‘ zu orientieren. Die seit Anfängen in der antiken Philosophie ‚spekulativ‘ fortentwickelten Gedankengebilde stützen sich zur Erklärung der erscheinenden Welt teils auf ‚partikulare Urphänomene‘, die passend verallgemeinert werden (z.B. im Personalismus, Idealismus, Materialismus, Organizismus), teils auf neuere ‚integrative‘ Ansätze, die Strukturen mehrerer empirischer Phänomenbereiche abzudecken suchen (z.B. im Evolutionismus, historischen Materialismus, Positivismus). In der Kultur- und Bewußtseinsgeschichte ist so eine Reihe unterschiedlicher Erklärungssysteme entstanden und abgewandelt worden. Die Wahl zwischen Typen dieser Erklärungen und die Aneignung von solchen bildet für viele kulturelle Interessengemeinschaften eine zentrale Komponente ihrer ‚Identität‘. Entdecker ‚neuer‘ Weltsichttypen neigen dazu, gewonnene Einsichten als unbedingte ‚Wahrheiten‘ gegen die Konkurrenz anderer Weltsichten zu ‚dogmatisieren‘. Umgekehrt werden solche Denkformen ihrerseits durch skeptische und aufklärerische Kritik in Frage gestellt: z.B. durch gezielten Illusions- oder Ideologieverdacht, sowie durch Aufdeckung von Immunisierungstaktiken gegen Kritik überhaupt. In der europäisch-‚westlichen‘ Kultur ist seit der neuzeitlichen ‚Aufklärung‘ die soziale Verbindlichkeit ‚metaphysisch‘ fundierter Weltsichten weitgehend verloren gegangen. Das gilt nicht nur für religiöse ‚Offenbarungswahrheiten‘, die zunächst in besonderem Maße in Frage gestellt wurden. Es gilt auch für säkulare Erkenntnissysteme, die nun mit dem Vorwurf konfrontiert sind, tradierte, institutionell gestützte ‚Gewißheiten‘ einem schrankenlosen Relativismus empirischer Forschung geopfert zu haben. Der Verfall der Glaubwürdigkeit schreitet so in beiden Richtungen fort: sei es durch zunehmende Partikularisierung der geglaubten Inhalte in weltlich-politischen Kontexten, sei es durch Bildung von Sekten und (z.T. militanten) fundamentalistischen Bewegungen in den Weltreligionen. Wenn auch Weltsichten heute viel von ihrer früheren Bedeutung eingebüßt haben: ihre wertungsfreie phänomenologische Analyse, wie sie hier einführend versucht wird, ist nach wie vor relevant, indem sie Orientierungsperspektiven eröffnet, mögliche Blickseiten ‚unserer‘ Welt zu unterscheiden.
Der Autor Ernst Oldemeyer, Studium der Philosophie, Germanistik und Geschichte in Bonn und Freiburg i. Br. – 1960 Promotion in Philosophie an der Universität Freiburg. – 1969 Habilitation für Philosophie an der Universität Karlsruhe (TH). – 1974- 1993 Professor für Philosophie ebendort. Bei K & N bereits erschienen: „Zur Phänomenologie des Bewußtseins“ (2005), „Alltagsästhetisierung“ (2008), „Dialektik der Wertorientierungen“ (2010).