Beschreibung
Die verbreitete Vorstellung, dass Rituale in der säkularisierten und rationalisierten Moderne seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert ihre Gültigkeit verloren hätten, erweist sich bei genauerer Betrachtung als zu einfach. Vor allem die ideologische Instrumentalisierung ritueller Formen durch die totalitären Regime des 20. Jahrhunderts, insbesondere im Nationalsozialismus, belegt einerseits die Kontinuität ritueller Formen, hat aber andererseits zu einer grundlegenden, bis in die heutige Zeit anhaltenden Skepsis gegenüber Ritualen und Ritualdarstellungen geführt. Dennoch sind sie in der modernen Kultur und Kunst bemerkenswert präsent. Ritualität ist offenbar eine grundsätzliche Option der Kunst und das auch im Prozess der Säkularisierung. Dies gilt sogar noch für die Kunst, die sich emphatisch als ‚modern’ begreift. Die zu Beginn des 20. Jahrhunderts verstärkt einsetzende Wiederbelebung ritueller Qualitäten der Kunst lässt sich daher bis in die Gegenwart hinein beobachten. Die Beiträge des Bandes von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen aus der Germanistik, Literaturwissenschaft, Anglistik und Theaterwissenschaft gehen der grundsätzlichen Bedeutung von Ritual und Ritualität im 20. und 21. Jahrhundert nach und diskutieren sie an exemplarischen Beispielen aus Literatur, Theater und Musik.
Inhalt:
S. Fischer / B. Mayer: Kunst-Rituale – Ritual- Kunst. Zur Ritualität von Theater, Literatur und Musik in der Moderne – Einführung – Ritualität im Theater, in der Musik und im Drama des 20. Jahrhunderts – B. Mayer: Tabubruch und Skandal als Rituale im Theater der Jahrhundertwende – H. Finter: Ritual nach Artaud – S. Fischer: Poetische Ritualität und Schuld im Theater nach 1945 – Nelly Sachs, Mary Wigmann und Pina Bausch – M. Kleinert: Ritualität zwischen Bann und Befreiung oder: Wer hat Angst vor Elly Ney? – Ritualität im Theater und im Drama der Gegenwart – A. Englhart: (Trans)Ritualität im Gegenwartstheater? – I. Hentschel: Theater und Religion: Zwischen Spiel und Ritual – B. Giesler: „Du hast mir nie von diesem Finger erzählt“ – Ritual und Sprachkritik in Igor Bauersimas ‚futur de luxe‘ im Spiegel von Heinrich von Kleists Die Familie Schroffenstein – Ritualität und Erzählen – J. Rupp: Erzähltheoretische Perspektiven auf literarische Ritualdarstellungen am Beispiel englischer ‚pageant fictions‘ – K. Sidowska: Ritual und Tabubruch bei Witold Gombrowicz. Anhand von ‚Pornographie‘ und ‚Trauung‘ – N. Rottschäfer: Vom Ritual erzählen und Erzählen als Ritual: Zu Karl-Heinz Otts Roman Ins Offene
Die Herausgeberinnen:
Saskia Fischer studierte Literaturwissenschaft und Geschichte an der Universität Bielefeld. Sie ist wissenschaftliche Koordinatorin am Zentrum für interdisziplinäre Forschung, Bielefeld, und hat über die Wiederaneignung ritueller Formen in der Dramatik nach 1945 promoviert; Forschungsschwerpunkte: Allgemeine Literaturwissenschaft; Literatur des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart, Theater, Drama und Ritual, Literatur der Shoah.
Birgit Mayer studierte Neuere deutsche Literatur, Theater- und Kommunikationswissenschaft in München und Wien. Sie hat über Tabubrüche im Theater der Jahrhundertwende promoviert und ist derzeit Vorstandsreferentin/ Referentin des Kaufmännischen Direktors des Goethe-Instituts e.V.; Forschungsschwerpunkte: Drama und Theater im 20. Jahrhundert; Präsenztheorie; Gegenwartsliteratur.