Das Buch Und die Spiegel fangen an zu tauen ist Tobias Jenneweins erster Gedichtband. Dort wird von der Künstlerfigur erzählt, jedoch nicht von ihrer Kreativität. Stattdessen verliert man sich in einer Welt, in der es um das Nichts geht, in der nur nachgedacht, beobachtet, gewartet oder gescheitert wird, untermalt mit plötzlichen irrealen Zuständen oder einem Fünkchen Humor.
K&N-Praktikantin Jennifer Standke hat dem Autor einige Fragen gestellt.
Wie sind Sie auf die Idee gekommen, Gedichte zu schreiben?
Ich weiß es nicht. Das mag seltsam klingen, aber ich kann mich tatsächlich nicht an einen konkreten Anlass erinnern, der mich zum Schreiben von Gedichten gebracht hätte. Schon in meiner Kindheit und Jugend war da einfach dieser Ausdrucksimpuls – und so habe ich mich der Literatur und Sprache eben spielerisch genähert. Jedenfalls gehen meinen Gedichten in der Regel keine klar benennbaren Absichten oder Intentionen voraus. Eher steht ein sprachliches Bild oder eine diffuse Emotion am Beginn des Schreibprozesses – und dann versuche dieses Bild und diese Emotion noch genauer zu konturieren, ihm bzw. ihr eine dichterische Form zu geben.
Warum haben Sie den Titel Und die Spiegel fangen an zu tauen gewählt?
Die Formulierung „Und die Spiegel fangen an zu tauen“ ist ja eine Metapher. Spiegel können bekanntlich nicht tauen, anders als Schnee oder Eis. Eine Wendung wie „Und die Spiegel fangen an zu tauen“ soll die Leser*innen dazu einladen, sich einen Spiegel in ihrem Geist nicht nur als das vorzustellen, was er ist, als einen Gegenstand, den wir aus unserer Alltagswirklichkeit kennen, als einen Gegenstand, in dem wir uns betrachten und unser Aussehen studieren. Es geht auch darum, sich einen Spiegel, z.B. einen Taschen- oder Badezimmerspiegel, als etwas Eisiges oder Schneeiges zu denken, auch wenn das unsere Normalerfahrung übersteigt. Wenn ein Spiegel aus Eis oder Schnee besteht, dann kann er auch tauen, sich verflüssigen und mit ihm womöglich unser Selbstverständnis, unser Selbstbild im Spiegel. Ich habe die Metapher von den tauenden Spiegeln deshalb als Titel gewählt, damit die Leser*innen meine Gedichte immer wieder vor dem Hintergrund dieses Sprachbilds interpretieren, in dem die Idee von Selbsterkenntnis mit der Idee von Selbstverlust auf paradoxe Weise zusammenfällt. Mich faszinieren derartige Widersprüche. Ich versuche nicht, sie zu tilgen, sondern, im Gegenteil, sie zu entdecken, zu ‚umarmen‘.
Welches Gedicht fiel Ihnen am schwersten und welches ist für Sie am persönlichsten?
Es gibt kein Gedicht in diesem Band, dessen Entstehung mir keine Schwierigkeiten bereitet hätte. Oft sind es Fragen der Form, die eine Lyriker*in bei ihrer/seiner Arbeit an einem Gedicht beschäftigen. Z.B.: Kann ich dieses sprachliche Bild verwenden? Ist dieser Gedichtanfang prägnant genug? Muss ich an dieser oder jener Stelle nicht noch präziser werden? Diese und ähnliche Fragen habe ich mir beim Schreiben der Gedichte, die in meinem Band versammelt sind, unablässig gestellt – und ich habe jedes einzelne Gedicht im Lichte dieser Fragen oft mehrfach überarbeitet, sodass ich tatsächlich nicht sagen kann, welcher Text mich am meisten herausgefordert hat. Und eben weil in jedes Gedicht viel Lebens- und Arbeitszeit geflossen ist, kann ich auch nicht sagen, welches ich für das ‚persönlichste‘ halte. Es gibt sicher Gedichte in diesem Band, die mit autobiographischen Motiven spielen, ohne allerdings in einem eindeutigen Sinne autobiographisch zu sein. Etwas Persönliches oder Intimes haben die Gedichte für mich eher aufgrund der Intensität meiner Beschäftigung mit bzw. meiner Arbeit an ihnen.
Warum geht es in dem Gedichtband um das Nichts?
Es ist nicht ganz leicht so über das Nichts zu sprechen, als ob es der Gegenstand irgendeiner konkreten Erfahrung wäre. Es ist, genau genommen, sogar unmöglich. Denn wenn ich sage, etwas sei Nichts oder das Nichts, dann mag es vielleicht unverständlich sein, was ich damit meine. Aber dieses Etwas, das ich als das Nichts bezeichne, ist dann immerhin der Gegenstand meiner Rede und damit gerade nicht mehr nichts. Mit anderen Worten, das Nichts löst sich auf, sobald ich darüber spreche. Es ist sozusagen sein eigenes Nichts, identisch mit seiner ‚Ver-Nicht-ung‘. Klar, dieser Zugang zum Nichts ist einigermaßen abstrakt und führt möglicherweise nirgendwo hin. Doch könnte man vielleicht sagen, dass das Nichts das „ist“, was jeder Bestimmung einer Sache oder eines Phänomens vorausgeht, das Unbestimmte, Noch-nicht-Bestimmte, das Mögliche im Unterschied zum konkret Wirklichen. Ein weißes Blatt Papier zum Beispiel ist sicher nicht das Nichts, aber eine Fläche, die es buchstäblich offenlässt, was ich darauf schreiben werde. Es gibt einen französischen Dichter, Stéphane Mallarmé, der sinngemäß behauptet hat, die leere Seite wäre das vollkommenste Gedicht, das Gedicht der Gedichte, weil es jedem literarischen Text vorausliegt sowie das Chaos der Schöpfung. Die Idee der Kreativität und das Nichts bilden also in der europäischen Lyriktradition keine einfachen Gegensätze. Aber selbstverständlich bedroht das Nichts auch die Kreativität. Es ist dann der Abbruch der schöpferischen Tätigkeit, die Erfahrung der Leere, des Sinnverlusts. Doch wenn das Nichts die Kreativität nicht bedrohen würde, dann wären kreative Prozesse ja etwas, das ganz mechanisch, nach vorgegebenen Regeln und Gesetzen, ablaufen würde – und folglich keine kreativen Prozesse mehr. Das Nichts ist also die Bedingung von Kreativität, aber auch ihr mögliches Ende, beides zugleich. Dieser Widerspruch begegnet, glaube ich, jeder Lyriker*in in ihrer/seiner dichterischen Arbeit. Darum habe ich ihn zum Thema meines Gedichtbands gemacht.