2024 – 250 Jahre Die Leiden des jungen Werther
2024 – Die Leiden des jungen Jerusalem
Würde es ohne Karl Wilhelm Jerusalem einen Johann Wolfgang von Goethe geben, wie die Welt ihn heute kennt?
Eine solche Frage zu einer Geistesgröße wie Goethe scheint auf den ersten Blick despektierlich …
Aber …
Die Implikationen zwischen dem Suizid Jerusalems und dem Erscheinen von Die Leiden des jungen Werther sind so groß, dass es ohne diese wohl nie einen Werther gegeben hätte – zumindest nicht in der Form, wie wir ihn heute kennen. Und somit wäre auch der Riesenerfolg für den jungen Goethe ausgeblieben, der ihn schlagartig über die Grenzen hinaus bekannt machte und sicher einige Türen öffnete, die ihm ohne diesen Erfolg vorerst verschlossen geblieben wären.
Kann man deshalb Die Leiden des jungen Jerusalem als einen Werther 2.0 verstehen?
Nein, überhaupt nicht. Ich hatte nie diesen literarischen Anspruch, der mir auch nicht zusteht.
In beiden Büchern spielen historische Ereignisse in Wetzlar und am Reichskammergericht im Jahr 1772 eine große Rolle, aber das ist auch schon alles an Gemeinsamkeiten.
Ich wollte eine spannende, historische Kriminalgeschichte schreiben, die darüber hinaus mit historisch belegten Zitaten und Fakten dem realen Leben Jerusalems gerecht wird. Wenn man so will, eine kleine Wertschätzung für einen jungen Mann, dessen Blitzkarriere beim Reichskammergericht in Wetzlar ein jähes Ende fand und dessen Name ohne Goethes Werther längst in Vergessenheit geraten wäre.
Ein spannendes Abenteuer, in dem sowohl die Tragik der historischen Ereignisse als auch eine Brise Humor, gewürzt mit kritisch-ironischen Kommentaren, nicht zu kurz kommen.
Welche Rolle spielt dabei das Reichskammergericht?
Sowohl Goethe als auch Jerusalem waren zur gleichen Zeit am Reichskammergericht in Wetzlar tätig. Dass beide sich kannten, liegt auf der Hand. Ob man sie als Freunde bezeichnen kann, wie es hier und da zu lesen ist, wage ich zu bezweifeln, nicht zuletzt aufgrund ihrer doch sehr verschiedenen Charaktere.
Goethe war die Arbeit am Reichskammergericht nur lästig, für den Legationssekretär Jerusalem führte sie durch massives Mobbing von Seiten seines Vorgesetzten, dem Legationsrat von Höfler, in den Suizid. Es ist anzunehmen, dass mit diesem Mobbing auch eine soziale Ausgrenzung einherging, die schließlich – aus heutiger Sicht – in einer Depression mündete.
Das Reichskammergericht war mit dem Anspruch gestartet, ein ehrwürdiger Tempel der deutschen Freiheit und Gerechtigkeit zu sein. Dass eine recht kleine unbedeutende Stadt wie Wetzlar 1689 dazu erwählt wurde, lag wohl vor allem daran, dass keiner der vielen verschiedenen Reichsstände befürchten musste, hier mit den eigenen Interessen zu kurz zu kommen. So kam anfangs zwar viel fremdes Geld in die Stadt, was aber im Laufe der Zeit immer weniger der Stadt zugutekam.
Und da die Reichsstände sich sehr nachlässig im Zahlen der vereinbarten Kammerzieler zeigten, fehlten bald auch dem Reichskammergericht die finanziellen Mittel, um die nötigen Assessorenstellen zu besetzen und für zügige Gerichtsverfahren zu sorgen. Nicht umsonst ging damals, wenn irgendetwas zu lange dauerte und einfach kein Ende finden wollte, das geflügelte Wort um: Nichts hangt so lange wie ein Spruch in Wetzlar.
Hinzu kamen immer wieder Korruptionsvorwürfe, die auch in der Handlung meines Romans eine nicht unwesentliche Rolle spielen.
Gerade die Korruption am Reichskammergericht spielt ja in der fiktiven Kriminalgeschichte eine wichtige Rolle. Sind die dort auftretenden Figuren alle der Fantasie entsprungen?
Nein, keineswegs. Der Diener von Jerusalem, der Franziskanermönch Guardian, Hermann Franz von Pape, genannt Papius, sind historische Personen, die ich allerdings auf eine frei erfundene Jagd nach einem gräflichen Räuberhauptmann schicke, der nicht nur ein Theaterstück zur Aufführung bringen will.
Nicht zu vergessen ist die fiktive Maria, Schauspielerin einer italienischen Theatergruppe – und selbstverständlich hat auch ein Johann Wolfgang von Goethe seinen Platz in der Geschichte.
Zum Schluss noch eine Frage: Was hat es mit diesem ominösen Kniefall Jerusalems vor Elisabeth Herd auf sich, bei dem er ihr seine Liebe gestanden haben soll?
Es scheint sicher, dass Jerusalem am 29. Oktober 1772 einen Brief an den Pfalz-Lauterer Geheimen Sekretär Herd, Elisabeths Ehemann, geschrieben hat, auf den er keine Antwort bekam, nur den Bescheid: Der junge Mann werde das Haus Herd nicht mehr betreten.
Diese Nachricht hat dann wohl endgültig zu dem Entschluss geführt, seinem Leben ein Ende zu setzen. Kurz nach Mitternacht schoss er sich, mit einer von Christian Kestner geliehenen Pistole, in die Stirn. Blutüberströmt und bewusstlos wurde er am nächsten Morgen von seinem Diener gefunden.
Um die Mittagszeit des nächsten Tages erlag er seinen Verletzungen.
Ob es aber tatsächlich zu diesem Kniefall gekommen ist, bei dem Jerusalem Elisabeth seine Liebe gestanden hat oder ob es erst im Nachhinein so kolportiert wurde, weil es so schön zu Werther und seiner unerwiderten Liebe zu Lotte passen würde, muss deshalb ein Stück weit offenbleiben.
Sicher ist, irgendetwas muss vorgefallen sein – Gerüchte gab es zuhauf -, sonst hätte Jerusalem mit seinem Brief an Herd nicht noch einen letzten Versuch unternommen, in der Hoffnung heil aus der Geschichte herauszukommen.
Da der Brief aber nicht überliefert ist, lässt der Inhalt Raum für Spekulationen, die ich in frecher Weise schamlos ausgenutzt habe.
Autor: Uwe Schneider
Das Buch “Die Leiden des jungen Jerusalem” ist im Dezember 2023 im K&N Verlag erschienen. Mehr Informationen zum Buch finden Sie hier.