„Ich bin mir nicht bewußt, die Armen besonders belauscht zu haben, aber ich bin Hamburgerin, u die Stadt u der Zuschnitt des Lebens ist so demokratisch, die Stände sind so wenig voneinander geschieden, daß man es dort leicht hat, zu sehen und zu hören.“21
Beeinflusst von Theodor Storm und Friedrich Theodor Vischer schrieb Frapan seit etwa 1887 Novellen und Erzählungen, zunächst angesiedelt in der Hamburger Unterschicht. Aufgewachsen im Zentrum Hamburgs war für sie die Stadtbevölkerung keine anonyme Masse. Sie sah Details, Normalität, Humanität und die Möglichkeit des Menschlichen selbst unter menschenunwürdigen Bedingungen der Großstadt, auf die sie mit Humor blickte. Entsprechend dem Programm des poetischen Realismus stellt sie das Wahre und Wesentliche in der individuellen Realität dar, aber im Unterschied zu ihren Vorbildern Storm und Vischer in der des Prekariats. Darin, dass sie auf Individualität, Humanität sowie die Schuld- und Tragikfähigkeit gerade dieser Bevölkerungsgruppe hinweist, besteht das ganz Spezifische an Frapans Novellistik. Mit dieser Form von Heimatdichtung beeinflusste sie auch Fritz Stavenhagen. Diese Erzählungen kamen in Hamburg an.
„Mein [Lese]abend ist glücklich verlaufen, viele Leute haben noch gestanden; […]. Die ganze Reederei, Bürgermeister und Senatoren waren da; […]“22
In späteren, nicht in Hamburg spielenden Werken, bleiben die unteren Schichten gleichfalls ihr Personal. Viele wurden in der „Deutschen Rundschau“ von Julius Rodenberg veröffentlich.
Auch unter den Schriftsteller*innen in Zürich galt Frapan als „Krösus“23. Bis zur Jahrhundertwende übertraf ihr Einkommen das von Dichtern wie Karl Henckell, Julius Hart, Wilhelm Bölsche und Franz Blei, die zur gleichen Zeit in Zürich lebten.
Seit Ende der 1890er Jahre verschärfte sich Frapans literarische Aussage. Sie beließ es nicht mehr nur dabei, Einblick zu gewähren in Milieu und Menschlichkeit der Unterschichten, sondern stellte sich gegen das Establishment in Hamburg und in Zürich. In ihrer frauenrechtlerischen Kampfschrift “Wir Frauen haben kein Vaterland” (1899) klagt sie nicht nur den Hamburger Senat an, dass Frauen keine Studien- und Arbeitsstipendien erhalten, sondern greift alle national-konservativen Haltungen ihres “Vaterlands” an: die bürgerliche Familie mit “Rute” und “Schlafrock” und sexuellen Übergriffen, die den Staat stützenden Juristen mit ihrer materialistischen, male-chauvinistischen Ausrichtung, die Kleriker mit ihren “Zötchen” und die staatstragende Kirche sowie die Rassisten. Da alle Institutionen von Männern dominiert sind, gilt die Kritik allen Antifeministen. Sie kämpft für einen internationalen Zusammenschluss aller Frauen, aber nicht, um die Gleichstellung in bestehenden Staats- und Lebensformen zu erhalten, sondern um Menschenliebe und ethische Grundwerte durchzusetzen.
Das einzige Kinderbuch, das Frapan schrieb, “Hamburger Bilder für Hamburger Kinder” (1899), ist das erste Kinderbuch in deutscher Sprache, das das Leben von Kindern in der Großstadt zeigt – ein „Meilenstein“ in der Kinderliteratur24. Es ist ein Auftragswerk der Vertreter der Hamburger Jugendschriftenbewegung Fritz von Borstel und Heinrich Wolgast, die Texte für ein neues Schulbuch benötigten. Inspiriert von den pädagogischen Ideen Wolgasts und von kunstpädagogischen Vorstellungen Alfred Lichtwarks und seiner „Sammlung von Bildern aus Hamburg“ kreierte Frapan Texte, in denen fast durchgehend Kinder ohne festgelegte Geschlechtsrollenzuweisung agieren. Aufgrund der Ich-Perspektive auf die Welt, einer Art „Kamerablick“, beschreiben namenlose, genderneutrale Kinder, was sie sehen, denken und wie sie handeln. Die relativ statische Form des „Bildes“ bewirkt zum einen, dass aufgrund der Atmosphäre teilweise impressionistisch Stimmungsbilder entstehen, und zum anderen ermöglicht es dem Kind, seinen eigenen Denkprozess wiederzugeben und seinen Erkenntnisfortschritt zu reflektieren und zu kommentiert. Diese Selbstständigkeit im Beobachten und Rückschlüsse ziehen führt zu potentiell subversivem Denken, dem pädagogischen Ziel libertärer Pädagogik.
In den Texten für ältere Kinder werden die für Frapan wichtigen ethische Werte veranschaulicht: Zugewandtheit, wertschätzende Umgangsformen, Respekt und Akzeptanz gegenüber anderen Ethnien; außerdem Zivilcourage, Würdigung von Arbeit, eine offene Form von Religiosität und Solidarität. Der Reifungsprozess der Kinder kann als Initiationsbewegung zu einem sinnvollen Mitglied der Menschengemeinschaft verstanden werden.
Von den meist der Sozialdemokratie nahestehenden Pädagog*innen wurden die „Bilder“ sehr geschätzt. Da sich viele während des Kaiserreichs jedoch in konservativere Richtung entwickelten, wurden nur noch wenige, traditionellere Bilder bis in die 60er Jahre hinein neu aufgelegt.
Frapans Roman „Arbeit“ (1903), ein weiblicher Entwicklungsroman, rief in Zürich wütenden Protest der Mediziner hervor, da die Hauptfigur, eine Medizinstudentin, die an kapitalistischen Prinzipien orientierte Struktur des Uniklinikums bloßstellt. Das eigentliche Anliegen des Romans ist jedoch wieder die Durchsetzung von Liebe im zwischenmenschlichen Umgang. Der Korintherbrief ist Ausgangs- und Zielpunkt der Entwicklung der Protagonistin:
„Die Liebe höret nimmer auf, wo doch das prophetische Reden aufhören wird und das Zungenreden aufhören wird und die Erkenntnis aufhören wird“ (1. Kor. 13,8, LU).
Frapan schrieb zwei Dramen, die beide im Ernst-Drucker-Theater aufgeführt wurden. Das zweite, „Die Retter der Moral“ (1905) fand sie selbst „krass“. Auch zeitgenössische Frauenrechtlerinnen lehnten es fast durchgehend als zu schockierend ab. Nach zwei Vorstellungen wurde es denn auch bereits abgesetzt. Es kritisiert die Machenschaften der Sittenpolizei, die um 1900 gynäkologische Zwangsuntersuchungen durchführen durfte und durchführte bei der Prostitution verdächtigen Frauen, im Grunde bei allen, die abends alleine auf die Straße gingen. Stein des Anstoßes war nicht nur der Inhalt, sondern auch die aggressive Form des Stücks. Ein Polizeiarzt vergewaltigt seine uneheliche Tochter. Im Schlussbild kulminiert die Handlung in einem kreativen Angriff maskierter Frauen auf die durch männliche Polizeibeamte repräsentierte Staatsmacht. Dadurch wird die Täter-Opfer-Rolle umgekehrt. Die Frauen erscheinen als Rächerinnen: Auf einem Maskenball übernehmen sie kostümiert – drei Babies, ein Tintenfisch mit Schweinerüssel als Po-po-lyp usw. – in einem abgekarteten Spiel die Macht. Die temporeiche Inszenierung wird noch gesteigert durch eine schwarzverhangene Bahre mit einem Polypen, der eine weibliche Wasserleichenpuppe in den Fangarmen hält. Unter der Bahre springt dann eine Maske mit roter phrygischer Jakobinermütze hervor. Stimmen und inszenierter Applaus aus dem Publikum kommentieren das Szenario. Die expressiven Kunstgriffe und die raffinierte Einbeziehung des Publikums führen zu einer partiellen Überwindung des Theaters als Guckkastenbühne. Unverschämt direkt entlarvte Frapan männliche Schamlosigkeit.
Frapan war eine mutige und vielseitig engagierte Frau. Bereits im Sterben liegend, wurde sie am 2.12.1908 von ihrer Lebensgefährtin Emma Mandelbaum erschossen, die sich daraufhin selbst tötete. Beide erhielten ein Armengrab auf dem Friedhof St. Georges in Genf. Obwohl der Wunsch einer Überführung der beiden auf den Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg bestand, Geld gesammelt wurde und von privater Hand ein Grabstein gespendet worden wäre, kam die Überführung nicht zustande. Wegen des Suizids? Wegen Frapans politischer Einstellung? Die Gründe sind nicht bekannt. Mit einem Medaillon im „Garten der Frauen“ soll nun an Frapan erinnert werden. Bei einer Gedenkveranstaltung am 9. Juni 2024 wird es enthüllt.
„Das Leben ist so wunderbar, aber die Menschen verstehen es nicht. Sie jagen nach Schutt und Schmutz und lassen das Wertvolle liegen. […] Das weiseste ist die Liebe; die höchste Intelligenz kann irren, die Liebe aber irrt sich nicht.“25
Christa Kraft-Schwenk
Verweise / Bildquellen
21) Ilse Frapan 1887, in: Kraft-Schwenk 2023, S. 447.
22) Ilse Frapan 1897, in: Kraft-Schwenk 2023, S. 182.
23) Fritz Marti 1908, in: Kraft-Schwenk 2023, S. 285.
24) Andreas Graf, Werkprofil. Hamburger Bilder für Hamburger Kinder von Ilse Frapan, in: Brunken u.a., Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur, Bd.5, 1850-1900, Stuttgart 2008, S. 348, in: Kraft-Schwenk 2023, S. 494.
25) Frapan auf ihrem Sterbebett, in: Kraft-Schwenk 2023, S. 401.
Titelfoto: Ilse Frapan auf der Schaukel, Gelände der „Campagne Schaffner“, o.D. [zwischen 1902 und 1904], in: Kraft-Schwenk 2023: S, 365.